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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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Seline kurz vor der Klassentür. »Geht es dir nicht gut?«
    »Ja, nein … es geht mir gut«, antworte ich unschlüssig.
    Eines Tages werde ich vielleicht verstehen, warum mich eine einfache Umarmung mehr verwundet als ein Messerstich.

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    Kapitel 24
    A ls der Direktor uns in die Turnhalle bestellt, rätselt niemand lange über den Grund für diese Versammlung.
    Scrooge steht auf einer Gymnastikbank, um seiner armseligen Erscheinung ein paar Zentimeter hinzuzufügen, und wartet, bis alle Klassen sich auf dem Linoleumfeld eingefunden haben. Er bringt ein Mikrofon zum Pfeifen.
    »Eins … zwei … Probe … Ruhe miteinander … Ruhe!«
    Das Stimmengewirr wogt wie das Meer. Er scheint es nicht eilig zu haben. Beharrlich reibt er sich die Hände und reizt damit die Lautsprecher. Er wirkt ungewöhnlich zufrieden. Seine Genugtuung lässt sich am Spiel seiner schmalen, olivbraunen Lippen ablesen. Wenn ich mich später an ihn erinnern sollte, dann sicher nicht, weil er so sympathisch war.
    An meiner Seite steht Agatha, auf der anderen Seline und neben ihr Naomi. Eingezwängt zwischen unseren Mitschülern, warten wir. Ich halte in der Menge nach Morgan Ausschau und entdecke ihn schließlich am anderen Ende der Turnhalle. Mir scheint, dass auch er zu mir hinsieht, und für einen Augenblick fühlt es sich so an wie in der Zebra-Bar, als würde es nur uns beide in diesem Raum geben. Ich wende den Blick gleich wieder ab und bilde eine geschlossene Front mit meinen Freundinnen. Wenn schon sonst nicht, so sind wir uns in diesem Moment wenigstens körperlich nahe.
    Weitere zähe Minuten vergehen, in denen Scrooge mit der Beharrlichkeit eines Auftragskillers abwartet, bis vollkommene Stille herrscht. Mit zu Schlitzen verengten Augen lotet er die Umgebung aus wie ein Tiefenradar. Zwischen den weißen Wänden und dem bläulichen Boden dieser Turnhallen-Schachtel gefangen, fühle ich mich wie eins der vielen welken Blätter, die im Winter auf dem Grund eines Schwimmbeckens vor sich hinmodern.
    »Ich habe euch hier zusammengerufen, liebe Schülerinnen und Schüler … ich habe euch zusammengerufen … um euch eine wichtige Mitteilung zu machen.«
    Hinter Scrooge geht die Tür auf, die in den Schulhof führt. Zwei Personen kommen herein. Ihre Umrisse zeichnen sich vor dem hellen Rechteck ab: Es sind Scrooges Sekretärin, eine kleine, runde Frau mit ewig roten Wangen und einem eingemeißelten blöden Dauerlächeln, und Adam. Die Wunden in seinem Gesicht sind fast völlig verschwunden, doch er hält den Blick gesenkt und wirkt resigniert.
    Kein Laut ist mehr zu hören.
    »Euch ist allen bekannt«, knarzt Scrooge ins Mikrofon, »was vor wenigen Wochen in meinem Büro geschehen ist. Nun, heute kann ich euch verkünden, dass der Schuldige nach einer gründlichen Untersuchung ermittelt wurde. Tritt vor, Junge!«
    Die Sekretärin versetzt Adam einen leichten Klaps auf die Schulter, als wollte sie ihn antreiben. Er schlurft neben ihr her, ohne je in die dichtgedrängte Menge seiner Mitschüler zu blicken, die ihn anstarren wie einen zum Tode Verurteilten. Die beiden erreichen die Bank, auf der der Direktor offenbar Wurzeln geschlagen hat.
    »Komm näher, Junge, ganz nach vorn«, krächzt Scrooge und zeigt auf eine Stelle vor sich.
    Adam gehorcht.
    Jetzt sehe ich ihn besser. Er trägt ein schwarzes Sweatshirt mit einem großen, orangenen Totenschädel vorne drauf, Jeans und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln.
    Als Adam am Direktor vorbeigeht, legt der ihm hölzern die Hand auf die rechte Schulter. Adam bleibt abrupt stehen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Wie Haken graben sich Scrooges knotige Finger in sein Sweatshirt.
     
    »Du hast dich falsch verhalten, Adam«, deklamiert Scrooge wie ein Prediger. »Du hast gegen die Regeln dieser Schule verstoßen. Du bist in mein Büro eingedrungen und hast es verwüstet wie der schlimmste Vandale. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Das Vertrauen der Lehrer dieser Schule. Aber auch das deiner Mitschüler.«
    Dann hebt er die Stimme noch mehr, lässt den Blick über sein aufmerksames Publikum schweifen. »Ich will, dass ihr ihn euch alle gut anseht. Das passiert mit denen, die sich nicht an die Regeln halten.«
    Mit einem Schubser stößt Scrooge Adam von sich, wie widerlichen Abschaum.
    »Adam, du wirst vom Unterricht ausgeschlossen.«
    Das überrascht niemanden, und trotzdem hat es eine seltsame Faszination, so einer Verurteilung beizuwohnen. Es verursacht

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