Nacht
gibt«, sagt sie. »Oder dass wir sie uns schaffen können, falls es keine gibt.« Ohne weitere Erklärung steigt sie die Treppe hinauf, um zurück in die Klasse zu gehen.
Ich lasse die anderen an mir vorbeiziehen, sie stoßen und rempeln mich. Ich sehe Agathas schwarzem Schatten nach. Selines gespenstischer Silhouette. Naomi, die schweigt.
Ich suche nach Morgan.
Ich sehe ihn nicht.
Ich denke öfter an ihn, als mir lieb ist.
[home]
Kapitel 25
E s ist kurz nach fünf und dunkel, aber nicht mehr ganz so sehr wie in letzter Zeit. Die Tage werden langsam länger.
Ich stehe an einer Bushaltestelle und warte auf den Bus mit Naomi und Seline. Wir haben beschlossen, uns einen Shopping-Nachmittag zu gönnen, auch um Seline ein wenig aufzumuntern.
Von dem, was auf der Toilette passiert ist, habe ich niemandem erzählt. Ich will nicht, dass Seline sich verraten fühlt. Sie kann es den anderen selbst erzählen, wann immer sie es für richtig hält, aber bis dahin muss sie sich auf mein Schweigen verlassen können, wenn ich will, dass sie sich mir anvertraut.
Es beginnt zu regnen und ich flüchte mich unter die Markise eines Geschäfts. Ich recke den Hals und sehe mich um, aber es ist kein Bus in Sicht.
Wenn ich eine Uhr hätte, könnte ich jetzt nach der Zeit sehen.
Ich seufze – ich hasse es, zu warten.
Während ich mich tiefer in meine Jacke mummele, entdecke ich auf der anderen Seite der Kreuzung den Schreibwarenladen, in dem ich das violette Heft gekauft habe. Ich sehe das Licht, das ins Schaufenster fällt. Habe ich vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen, genau hier?
Wieder vor diesem Geschäft zu stehen und wieder an einem Regentag, löst zwiespältige Gefühle in mir aus: Einerseits will ich so schnell wie möglich von hier weg, weil die Erinnerung an den Mord, den ich in meiner Geschichte beschrieben habe, noch sehr präsent ist, andererseits stachelt mich eine ungewöhnliche Neugier an, hinüberzugehen und erneut einen Blick in das Schaufenster zu werfen.
Zur Sicherheit schaue ich noch einmal die Straße entlang: nur Autos, die vorbeirauschen und dabei Sturzwellen verursachen.
Der Regen fällt jetzt schwer und dicht. Wie beim letzten Mal.
Vom Zufall gelenkt, gehe ich über die Kreuzung und auf die Schreibwarenhandlung zu.
Das Schaufenster ist heute noch beeindruckender, bestimmt das Werk eines Künstlers. Mittendrin steht ein kleines Modell, das einige Gebäude und Plätze der Stadt darstellt (ich erkenne das Theater, das Einkaufszentrum, den Alten Hafen, die Eisenbrücke, die in die Altstadt führt, und so weiter). Es besteht ganz aus Stiften. Alle möglichen Stifte sind dabei, für jeden Geschmack, sie bilden einen großen Farbfleck und lassen diese Totenstadt doch tatsächlich fröhlich aussehen.
Ohne nachzudenken, drücke ich sachte die Holztür neben dem großen Schaufenster auf. Sobald ich einen Fuß hineingesetzt habe, kündigt mich die alte, misstönende Glocke an. Es ist alles wie beim ersten Mal. Vertraut. Und beruhigend. Ich bleibe reglos an der Schwelle stehen, während das Wasser von meinen Kleidern rinnt, und überlege, ob ich weitergehen soll.
Nur eine einzelne Kundin ist im Laden, eine alte Dame in einem voluminösen Pelzmantel, der nach Mottenkugeln und nassem Fell riecht. Sie trägt einen Hut, aus dem eine große, bunte Feder von wer weiß welchem Vogel ragt, und kauft gerade drei Hefte mit blauem Einband und einige Buntstifte.
»Es tut mir leid, meine Dame, aber ich habe keinen Klebstoff in Dosen mehr«, sagt der Engelmann auf seine freundliche Art und mit seinem ruhigen Lächeln zu ihr. »Wenn Sie morgen wiederkommen wollen, ist er auf jeden Fall erhältlich.«
Die Dame im Pelz murmelt eine Antwort, dann beginnt sie, aus einem runden Portemonnaie eine endlose Reihe von winzigen Münzen herauszufischen, die sie auf dem Verkaufstisch aufreiht wie Pokerchips. Derweil merke ich, wie die Regentropfen aus meinen klatschnassen Haaren auf den Fußboden tropfen. Einer nach dem anderen, wie in Zeitlupe. Der Eindruck ist der gleiche wie beim ersten Mal: als würde hier drin die Zeit stillstehen. Der Schreibwarenhändler, seine Ware und sogar die Kunden gehören einer Welt an, die es nicht mehr gibt. Auch die im Schaufenster nachgebildete Stadt ist nicht mehr dieselbe. Es ist, als wäre man in eine Momentaufnahme von vor vielen Jahren hineingeraten, als manche Leute hier vielleicht noch richtig lebten und nicht nur auf der Durchreise waren wie wir alle. Ich lasse die alte Dame auf
Weitere Kostenlose Bücher