Nacht
weg.
Mit flatternden Lidern sehe ich an die Decke.
Ich stehe auf.
Es ist wirklich vorbei.
Jenna steht im Flur, fertig fürs Krankenhaus.
»Hallo, Schatz. Wie geht es dir?«
Sie hat mich gestern Abend erlebt. Ich war wirklich fix und fertig. Ich habe niemanden angesehen und kein Essen angerührt. Habe mich in mein Zimmer eingeschlossen und mir die Bettdecke über den Kopf gezogen in der Hoffnung, dass das Leben um mich herum sich so leise wie möglich abspielt.
»Besser«, sage ich.
»Du solltest ins Krankenhaus kommen und dich untersuchen lassen. Es gibt dort einen sehr guten Spezialisten.«
Sie redet, während sie sich anzieht, mit der typischen Distanziertheit von Leuten, für die Schmerzen zum Arbeitsalltag gehören.
»Wozu denn? Jetzt geht’s mir doch wieder gut.«
»Du weißt genau, warum.«
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Du darfst nicht vergessen, dass du einen schlimmen Unfall hattest. Manche Traumafolgen machen sich erst lange Zeit später bemerkbar. Nur zur Kontrolle, weiter nichts.«
Vielleicht hat sie ja recht, aber ich habe keine Lust, mich für eine Computertomographie in diese Höllenmaschine schieben zu lassen, in der nicht mal Platz zum Atmen ist. Sie binden einen mit Riemen fest, damit man nicht auf die Idee kommt abzuhauen.
»Ich war einfach nur müde.«
»Wie du meinst, aber wenn das wieder vorkommt, lässt du ein CT machen.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, sage ich und verschwinde im Bad, ehe Jenna ihre Meinung ändern kann.
Ich betrachte mich im Spiegel.
Mein Gesicht ist entspannt, als hätte ich wunderbar geschlafen und nicht diese stechenden Schmerzen in den Schläfen gehabt, die mich die ganze Nacht wach gehalten haben. Die stärkste Migräne meines Lebens, und jetzt nichts.
Ich befeuchte meine Stirn und die Handgelenke mit kaltem Wasser und bürste meine Haare. Sie sind so lang.
Dann mache ich mich auf den Weg zur Schule.
Seline kommt nicht wieder.
Sie ist vor einer Viertelstunde auf die Toilette verschwunden und noch nicht zurück. Ich stehe auf, um nach ihr zu sehen.
Die Lehrerin, die mich aufhalten will, ignoriere ich.
Ich durchquere den langen Gang bis zur Mädchentoilette.
Noch bevor ich sie sehe, höre ich sie.
Dann erkenne ich ihre weißrosa Turnschuhe, die unter einer der Kabinentüren hervorlugen. Ich reiße die Tür auf: Seline steht vornübergebeugt und hält sich die Haare mit einer Hand aus dem Gesicht. Die andere hat sie gegen die Wand gestützt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Sie übergibt sich.
Ohne etwas zu sagen, helfe ich ihr, drücke die Spülung und bringe sie hinaus. Ihr Gesicht hat denselben Farbton wie die fleckig grauen Wände der Toilette.
»Mir war nicht gut …«, flüstert sie, als die Krise vorbei ist. Hinter den Fenstern dröhnt monoton der Verkehr, wie ein riesiger, ständig laufender Motor. Seline hebt den Blick. »Vielleicht habe ich was Falsches gegessen.«
Ich schüttele den Kopf. »Seline, du hast ein Problem.«
»Ich habe überhaupt kein Problem!«, schreit sie mit dem bisschen Kraft, das sie noch hat.
»Du bist magersüchtig. Du weigerst dich zu essen oder kotzt es aus, und das alles wegen diesem verdammten Video. Aber jetzt reicht es.«
Sie sieht mich mit ihren großen grünen Augen an und fängt an zu weinen. Seline ist nicht hart und wird es nie sein. Sie kann nicht mal das kleinste bisschen Schmerz ertragen. Arme Kleine, denke ich, während ich ihr ein Papierhandtuch nach dem anderen reiche. Naiv, schwach, niedergeschmettert. Ihr Leben hat sich in wenigen Wochen vollkommen verändert und ihr eine zu hohe Rechnung präsentiert. Zum ersten Mal spüre ich eine neue Art von Wut, als ich sie so betrachte, nicht auf sie oder Adam oder sonst jemand Bestimmten. Sondern Wut auf das Leben. Auf die Dinge, die passieren.
Als ich das zigste Papierhandtuch abreiße, um ihr die Tränen zu trocknen, macht Seline etwas für mich Überraschendes. Sie umarmt mich. Sie tut es aus einem Gefühlsüberschwang, einem unbezähmbaren Bedürfnis nach Wärme heraus. Einer Wärme, die ihr mein Körper nicht geben kann. Ich bleibe steif und starr stehen, mit angespannten Muskeln, eingeschlossen in einen Panzer, der nichts nach außen dringen lässt.
Ihre Arme drücken mich immer sachter. Schließlich lässt sie mich los, wischt sich die Augen mit dem Handrücken ab und sagt: »Danke.«
»Wir sind doch Freundinnen.«
Wir machen uns ein wenig zurecht und gehen zurück in die Klasse.
»Wie kalt du bist, Alma«, murmelt
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