Nacht
zu klauen.
»Hat er dir auch erzählt, wie es dazu gekommen ist?«
Jenna macht ihren BH zu und geht die im Schrank hängenden Blusen durch. »Das werden sie sicher heute Abend erzählen. Anscheinend ist Tea schon seit einer Weile zur Vernunft gekommen und hilft ihm im Lokal. Er ist dabei, ihr zu zeigen, wie man die Gäste bedient.«
So hat sie es also geplant. Sie wird abwarten, bis ihr Vater ihr völlig vertraut, und im geeigneten Moment seine Kasse ausrauben. Oder jeden Tag ein Sümmchen beiseiteschaffen, um sich aus dem Schlamassel zu ziehen. Dieses Miststück.
Mein Gesichtsausdruck scheint meine Gedanken zu verraten, denn Jenna dreht sich um und will wissen, was ich habe.
Ich schüttele den Kopf. »Nichts. Ich mag Tea nicht besonders, das ist alles.«
»Ich weiß, aber versuch, nett zu ihr zu sein, ja?«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Ich gehe und hole meine neuen Stiefel. Werfe sie aufs Bett.
Dann verschwinde ich in die Dusche.
Jenna hat sich richtig fein gemacht. Am Ende hat sie sich für ein schwarzes Kleid entschieden, das ich seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen habe, und ich habe ihr geholfen, den Reißverschluss oben am Hals zu schließen. Lina wollte ihr kanariengelbes Kostüm anziehen und trägt dazu einen Haarreif mit zwei kleinen Papageien auf Sprungfedern, die aus ihren Haaren hervorwippen. Sie sieht aus wie ein Püppchen. Sie weiß das und lächelt mich breit und verträumt an. Ich dagegen habe mich für ein Ensemble aus einem Rock und einem tief ausgeschnittenen Shirt mit einem geometrischen Muster in Grün, Violett und Schwarz entschieden.
»Evan?«, frage ich gewohnheitsmäßig.
»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«
Vor dem Badezimmerspiegel greift Jenna nach ihrem Parfümflakon und pumpt die letzten Tropfen heraus.
Lina schüttelt den Kopf: Auch sie hat unseren Bruder nicht gesehen.
»Schreib ihm eine SMS .«
»Ich glaube nicht, dass er lesen kann.«
»Alma!«
»Er hat doch Schlüssel. Wenn er nach Hause will, kann er jederzeit rein.«
Meine Mutter insistiert nicht weiter. Sie macht die Wohnungstür auf. »Ich gehe das Auto holen.«
Lina und ich folgen ihr bis in den Hauseingang. Wir sehen unsere Mutter in der Dunkelheit des Abends verschwinden und kurz darauf am Steuer unseres roten Kleinwagens wieder auftauchen. Er ist kompakt wie ein Torpedo und so geräumig wie ein dreirädriger Kleintransporter. Lina setzt sich nach hinten, ich mich auf den Beifahrersitz, Ellbogen an Ellbogen mit Jenna. Aus dem Autoradio plärrt ein unerträglicher Sound aus Glockenläuten und Walgestöhn.
»Müssen wir diesen Kram hören?«
»Das ist Entspannungsmusik, meine Liebe. Lass dich davontragen.«
»Klar. Ins Irrenhaus.«
Sie überhört das und fährt ihre Klapperkiste, konträr zu der angeblichen Wirkung dieses Geheules, als wäre es eine Sonderausführung. Im Grunde hat sie ihr ganzes Leben auf das Prinzip gegründet, dass man nur fest an etwas glauben muss, um es wahr zu machen.
Wir flitzen durch den dichten Verkehr der Straßen. Sie glänzen vom Regen. Triefen vor Licht. Jenna schlägt sich durch wie eine Berufsfahrerin, oder vielleicht ist es nur eine Frage von Automatismen. Sie fährt diese Strecke jeden Tag. Jedenfalls halten wir nach einer knappen halben Stunde vor der Frittierstube.
Auf einem gelbroten Schild über dem Eingang leuchtet in großen Lettern der Name des Lokals: » GUSTIBUS «. Gebildetes, lateinisches Getue, typisch für Gad. Doch sobald man an der Fassade des Hauses emporsieht, verflüchtigt sich jede Poesie. Es ist hoch und modern, mit großen Fenstern und viel Beton, wie die meisten Gebäude dieser Gegend. In der Ferne flimmert das große leuchtende H des Krankenhauses. Ich stelle mir vor, wie Gad an den Abenden, die meine Mutter auf Station verbringt, sein Frittenlokal schließt und ihr ausgesuchte Leckerbissen bringt, in diesen durchfettsicheren Schachteln, die er extra von irgendwoher importiert hat. Nach zwei egoistischen und unreifen Männern war Jenna wenigstens so klug, diesmal einen fürsorglichen zu nehmen.
Beim Betreten des Lokals überfällt uns der Geruch, der mir inzwischen so vertraut ist. Gads Frittenbude besteht aus einem mittelgroßen Raum mit einem langen Tresen, auf dem die Köstlichkeiten des Hauses ausgestellt sind wie Schmuck beim Juwelier. An der gegenüberliegenden Seite, neben einer gigantischen Jukebox, stehen einige gelbe Tische samt dazugehörigen Sitzbänken, die mit roten Kissen gepolstert sind. An der Decke surrt ein
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