Nacht
in den Flur, die erste Tür rechts.«
Als Naomi draußen ist, winkt der Doktor mich zu sich.
»Was meinen Sie?«
»Ich würde sagen, es ist gut verlaufen. Mit der Zeit wird sie sich erinnern.«
»Sind Sie sicher?«
»Sicher ist nur der Tod, meine Liebe. Aber ich bin zuversichtlich. Allerdings gibt es da noch etwas anderes, über das ich mit dir reden will«, sagt er ernst.
Ich höre ihm schweigend zu.
»Ich befürchte, dass deine Freundin das Opfer einer Sekte von Satanisten geworden ist. Das Kruzifix, die Folterung, die Drogen, die Gruppenvergewaltigung. Das sind wichtige, aber keine eindeutigen Hinweise. Die Welt ist voll von Schurken. Deshalb darfst du vorläufig mit niemandem darüber sprechen. Auf keinen Fall. Vor allem nicht mit ihr. Das wäre fatal für ihr seelisches Gleichgewicht.«
Gleichgewicht, Gleichgewicht. So schwer zu bewahren.
»Eine Satanistensekte?«
Der Doktor nickt. »Das ist leider ein zunehmendes Phänomen in dieser Stadt. Vor allem unter Jugendlichen.«
Ich denke an die Morde, über die ich schreibe. An die ritualhafte Brutalität, mit der diese armen Opfer getötet wurden.
»Ich würde Sie gern etwas fragen.«
»Nur zu.«
»Ist es Ihrer Meinung nach möglich, etwas zu träumen, das dann in der Wirklichkeit eintritt?«
»Gewiss, das kann passieren. Das nennt man Warnträume.«
»Wie erklären die sich?«
»Manche sprechen von einer Art Telepathie.«
»Telepathie?«
»Ja, eine geistige Verbindung zwischen Menschen. Manchmal wird so etwas von einem traumatischen Erlebnis ausgelöst. Zum Beispiel einem Unfall.«
»Einem Unfall?«
»Genau. Wie du einen hattest.« Der Arzt sieht mich eindringlich an. Ich bewege keinen Gesichtsmuskel. In den Sitzungen mit ihm habe ich gelernt, mir nichts anmerken zu lassen.
Schließlich scheint er aufzugeben.
»Wenn dich das Thema interessiert, kann ich dir ein Buch leihen, das eine sehr interessante Theorie dazu aufstellt. Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, habe aber in dem Text ein paar gute Anregungen gefunden.«
»Ja gern, danke.«
»Ist es für ein Projekt in der Schule?«
»Ja, genau«, lüge ich.
Doktor Mahl steht auf und nimmt aus dem Bücherregal hinter sich einen braunen Band mit dem in Gold geprägten Titel:
Träumen heißt überleben.
Er gibt ihn mir.
»Darin findest du, was du wissen musst.«
Ich stecke das Buch so in den Rucksack, dass Naomi es nicht sehen kann.
Im selben Augenblick kommt sie ins Zimmer zurück.
Der Doktor bietet ihr ein Glas Wasser an, das sie gierig trinkt. Dann vereinbart er den nächsten Termin mit ihr und verabschiedet uns.
»Was ist passiert? Was habe ich gesagt?«, fragt mich Naomi, sobald wir draußen sind.
»Es ist alles in Ordnung, Naomi. Alles in Ordnung«, beruhige ich sie.
Ich lüge. Schon wieder.
Ich habe furchtbare Angst. Und denke ununterbrochen an das Buch in meinem Rucksack.
[home]
Kapitel 32
I ch begleite Naomi nach Hause. Es ist besser, wenn sie nicht allein in der Gegend herumläuft.
Als ich aus dem hellgelben Haus komme, steht Morgan davor. Das überrascht mich nicht besonders, denn ich hatte ihm von der Sitzung bei Doktor Mahl erzählt, und er wird sich gedacht haben, dass ich danach mit hierherkomme. Es freut mich, ihn zu sehen. Wie immer ist er dunkel gekleidet und wie immer geheimnisvoll faszinierend. Aber ich würde mir eher die Hand abhacken, als ihn das wissen zu lassen.
»Hallo«, sagt er.
»Hallo. Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen.« Ich weiß selbst nicht, weshalb ich flunkere.
»Tatsächlich?«
Wir sehen uns augenzwinkernd an.
»Wie geht es Naomi?«
»Keine Ahnung. Sie scheint nicht mehr der Mensch zu sein, den ich kannte.«
»Ist die Sitzung bei dem Psychiater gut gelaufen?«
»Ich glaube, ja. Er hat sie hypnotisiert und ihr eine Menge Fragen gestellt.«
»Und …?«
Ich deute etwas über die Drogen an und dass sich der Verdacht des Krankenhausarztes als begründet erwiesen hat. Zu allem anderen gehe ich nicht ins Detail, ich sage nichts von der Gruppenvergewaltigung, die Naomi neu durchlebt hat. Dieser Schmerz gehört ihr allein.
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich habe gar nichts vor. Ich muss nachdenken.«
Morgan lässt das unkommentiert.
»Naomi muss die Sache auf jeden Fall anzeigen.«
»Zuerst muss sie sich in allen Einzelheiten daran erinnern.«
»Doktor Mahl ist überzeugt, dass sie das schafft. Und wenn sie sich erst einmal wieder an alles erinnert, an Namen, die genauen Umstände, Orte, werde ich sie davon überzeugen, zur
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