Nacht
Polizei zu gehen. Tito muss bestraft werden.«
Morgan nickt skeptisch. »Zur Polizei …«, murmelt er. Er scheint kein großes Vertrauen zu ihr zu haben. Noch so ein Anarchist wie Agatha?
Völlig unvermittelt legt er mir die Hände auf die Schultern und hält mich fest. Sein Griff ist entschieden, beinahe hart.
»Geh diesen Leuten aus dem Weg, Alma. Versprochen?«
Ich befreie mich, so dass seine Hände nun seitlich herabhängen.
»Ich kann auf mich aufpassen, keine Angst.«
»Aber wenn du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden …«
»Nein. Kein Bedürfnis.«
Einerseits schmeichelt mir sein Interesse, andererseits spüre ich eine Neugier, die über Naomis Fall hinausgeht. Da ist etwas, das mir Unbehagen bereitet. Als müsste ich meine Geheimnisse vor ihm schützen: das Heft, die Berichte über die Morde, die Angst, die mich überfällt, wenn ich die Worte lese und mich nie erinnern kann, sie geschrieben zu haben.
Vielleicht sollte ich selbst wieder zu dem Gehirnklempner gehen. Aber ich vertraue ihm nicht genug. Ich vertraue niemandem genug. Ich verlasse mich lieber auf meine eigenen Fähigkeiten, um die Verbindungen zwischen diesen Vorkommnissen aufzudecken. Verbindungen, die anscheinend nur ich sehe. Denn inzwischen glaube ich, dass ich selbst die Verbindung bin. Ich muss herausfinden, was da passiert, welche Rolle ich bei alldem spiele. Ich kann nicht mehr einfach nur eine willenlose Marionette sein.
Ein stechender Schmerz durchbohrt meinen Kopf.
Als ich nach Hause komme, husche ich sofort in mein Zimmer und schließe mich ein. Ich nehme das braune Buch aus meinem Rucksack. Mit der rechten Hand streiche ich über den Umschlag, fahre mit dem Zeigefinger die Konturen der goldenen Buchstaben nach, die den Titel bilden.
Träumen heißt überleben
– was soll das wohl bedeuten? Ich schlage es auf und beginne zu lesen.
»… Träumen ist wie atmen, schlafen und essen. Es ist eine Aktivität, die jeder Mensch von Geburt an ausführt, ohne dass er sie erlernen muss. Wenn wir nicht atmen, essen oder schlafen, riskieren wir unser Leben. Und wenn wir nicht träumen?
Namhafte Wissenschaftler sind dieser Frage nachgegangen, ohne dass bis heute eine abschließende Antwort darauf gefunden werden konnte, inwieweit es möglich ist, das Träumen zu beeinflussen bzw. zu kontrollieren. Wir können bis zu einem gewissen Punkt entscheiden, ob und wann wir die oben genannten lebenswichtigen Handlungen ausführen, aber wir können nicht entscheiden, ob und vor allem was wir träumen. Das Träumen nämlich kommt aus dem Unbewussten, das heißt aus dem verborgensten und am wenigsten kontrollierbaren Teil von uns selbst.«
Wenn ich meine Träume kontrollieren könnte, denke ich, wäre ich meine Probleme los. Ich lese weiter, überspringe hier und da einen Absatz.
»… Inwiefern also sind Träume für das menschliche Leben von Bedeutung? Sehen wir uns zunächst am Beispiel der Tiere an, weshalb Träumen so überlebenswichtig ist.
… Viele Tierarten sind in der Lage, Naturkatastrophen, die das Überleben gefährden, anzukündigen, sogar mehrere Tage im Voraus. Dabei ist es ihr Instinkt, der einen Kontakt zu der geophysischen Welt ihres Lebensraums herstellt. Auf diese Weise spüren sie die Gefahr, die für sie über Tod oder Leben entscheidet.
Im Falle der menschlichen Spezies jedoch darf man vermuten, dass eine solche Verbindung, die überlebenswichtige Signale und Warnungen ermöglicht, nicht mehr zur Natur besteht – welche die zivilisierten Gesellschaften heute nach Belieben beeinflussen und beherrschen –, sondern zu den Mitmenschen. Denn von den Handlungen jedes einzelnen Individuums hängt das Wohlergehen der anderen ab. In diesem Kontext lässt sich das Phänomen der Telepathie, der Gedankenübertragung zwischen Menschen, erklären. Man tritt zu einem gemeinsamen Zweck miteinander in Kontakt: sich gegenseitig Informationen weiterzugeben, die für das Überleben nützlich oder notwendig sind.«
Interessant, denke ich. Ich blättere durch die folgenden Seiten und bleibe bei dem Kapitel mit der Überschrift »Was sind Warnträume?« hängen.
»Warnträume stellen ein weiteres Instrument dar, durch das manche Menschen auf eine Gefahr oder ein konkretes Ereignis, das auf ihre Existenz einwirken kann, aufmerksam gemacht werden. Sie träumen von Verwandten, Bekannten, lebenden oder toten Personen, mit deren Geist sie auf unbewusster Ebene in Kontakt stehen.«
Genau so ist es! Ich visualisiere eine
Weitere Kostenlose Bücher