Nacht
Gefahr. Aber was hat das alles mit mir zu tun? Wieso ich?
»Der Traum erfordert im Gegensatz zum bewussten Gedanken keinen Wachzustand. Man denkt nicht, wenn man schläft. Hingegen ist nachgewiesen worden, dass sogar Komapatienten träumen. Was ist also der Ursprung des Traums? Niemand hat das bisher zufriedenstellend erforschen können. Es lässt sich nur hypothetisch definieren, was ein Warntraum ist: die Fähigkeit des Gehirns, durch Traumaktivität Ereignisse der nahen Zukunft, die uns betreffen, auf mehr oder weniger verschwommene Weise aufzufangen.«
»Alma? Abendessen ist fertig!«, ruft Jenna.
Ich klappe das Buch zu, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schwirren. Jetzt weiß ich zumindest, dass es Warnträume gibt und dass das Phänomen der Geistesverbindung wissenschaftlich untersucht wird. Aber warum träume und schreibe ich von Mordfällen, mit denen ich nichts zu tun habe? Und mit wem ist mein Unbewusstes oder mein Geist verbunden?
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Kapitel 33
E
s ist sechs Uhr. Noch früh, aber das wäre der dritte Tag in Folge, an dem Halle auf ihren Morgenlauf verzichtet. Seit man ihr die Leitung der Zeitschrift anvertraut hat, scheinen die Stunden nie auszureichen. Also steht sie auf und zieht verschlafen ihre Shorts an. Sie wirft einen Blick aus dem Fenster ihres Luxusappartements im vierunddreißigsten Stock eines der schönsten Wolkenkratzer der Stadt, der vollkommen mit Spiegelscheiben verkleidet ist und Aussicht auf den Nordpark bietet. Da unten ist alles in dichten Nebel getaucht. Der Himmel über ihr ist noch dunkel.
Sie nimmt ein Paar Handschuhe, den Kopfhörer und ihren MP
3
-Player, zieht ihre Laufschuhe an und geht hinaus.
Der Eingang zum Park liegt nur einen Block von ihrem Haus entfernt. Halle läuft in verhaltenem Tempo, sie muss erst wieder richtig in Form kommen. Um sie herum nichts als eine Nebelwand, hinter der ab und zu ein skeletthafter Baum auftaucht. Bei jedem Schritt denkt sie an die tropischen Landschaften ihrer letzten gemeinsamen Reise mit ihm. Dann, bei ihrer Rückkehr, der Bruch, die Einsamkeit, das Schweigen und schließlich ihre Beförderung, der Erfolg, der ihr das Leben gerettet hat. Halle läuft und denkt, an die Vergangenheit und an die Gegenwart. Um die Zukunft sorgt sie sich nie. Nicht mehr. Sie blickt geradeaus, konzentriert all ihre Energie auf die körperliche Anstrengung. Sie hört einen ihrer Lieblingssongs und steigert das Lauftempo. Sie fühlt sich stark und unbezwingbar. Bald müsste sie den künstlichen See in der Mitte des Parks sehen. Das Licht der Straßenlampen bringt seltsame Gebilde hervor, die durch den feuchten, kalten Nebel schweben. Vage beunruhigende Gestalten, die nach ihr zu greifen scheinen. Zwischen einem Schritt und dem nächsten rieselt ein Schauer über ihren verschwitzten Rücken, der an ihr haften bleibt wie eine lange, kalte Schlange.
Dann liegt sie plötzlich auf dem Boden. Atemlos. Ihr schlägt das Herz bis zum Hals. Und sie hat sich ein Knie aufgeschürft. Aber vor allem hat sie einen Riesenschreck bekommen. Sie dreht sich um, um nachzusehen, worüber sie gestolpert ist. Undeutlich erkennt sie einen großen Ast mitten auf dem Weg. Er muss einem der Gärtner, die den Park pflegen, heruntergefallen sein. Vollkommen in ihre Gedanken versunken, hat sie ihn überhaupt nicht gesehen. Sie lächelt über ihre Ängstlichkeit und steht auf. In ihrem Knie meldet sich ein dumpfer, pochender Schmerz. Die Schürfwunde ist mit winzigen roten Tröpfchen getupft. Nichts Ernstes. Aber sie muss zurück nach Hause und sich verarzten. Der Nebel legt sich feucht auf ihre Haut. Die Musik dröhnt aufdringlich in den Ohren. Der Atem quillt aus ihrem Mund wie dichter Qualm aus einem Schornstein. Halle steht auf und versucht, das Knie zu belasten. Kein Grund zur Sorge. Sie kann weiterlaufen. Doch in diesem Moment taucht hinter ihr eine behandschuhte Hand aus dem Nebel auf. Sie packt Halles schmalen Hals. Die Atemwolke verflüchtigt sich.
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Kapitel 34
E s ist dunkel. Ich massiere meinen Hals. Noch immer spüre ich die Hände, die mich würgen. Den Geruch der Lederhandschuhe. Die Feuchtigkeit des Nebels. Ein Knie tut mir weh, und ich bekomme keine Luft.
Ich liege in meinem Bett. In die Decken gewickelt, ein Pharao in seinem Sarkophag. Zum Glück war es nur ein Traum, wenn auch ein sehr realistischer.
Ich mache die Nachttischlampe an und sehe auf den Wecker: zwanzig vor sechs. Ich habe zehn Stunden am Stück geschlafen, bin aber kein bisschen
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