Nacht
erholt. Während ich darauf warte, dass die Erinnerung an meinen letzten Alptraum sich nach und nach verflüchtigt, massiere ich mir weiter den Hals und das Knie, atme ruhiger und genieße die Wärme des Bettes. Das Licht der Lampe wirft einen großen Kreis an die Decke, der mir hilft, mich zu entspannen.
Ja, es war nur ein Alptraum. Ein Phantasieprodukt, hervorgegangen aus dem, was ich gelesen habe.
Doch dann überkommt mich eine dunkle Ahnung.
Ich habe Angst, finde aber schließlich den Mut, die Decke zurückzuschlagen und mich aus dem Bett zu beugen. Tatsächlich, dort liegt es, genau da, wo ich es erwartet hatte, mit der aufgeschlagenen Seite nach unten auf dem Boden. Das violette Heft.
Ich schrecke zurück und verkrieche mich wieder unter meiner Decke, starr vor Entsetzen. Mir kommen die Lieder in den Sinn, die Jenna Lina vorsingt, damit sie besser einschlafen kann. Sie versprechen, dass ihr nichts passieren kann, solange sie in ihrem Bett schläft. Niemand kann ihr weh tun. Lina glaubt es und schlummert ein, als wäre die Bettdecke die stärkste aller Rüstungen. Mir hat Jenna nie so etwas vorgesungen. Oder ich erinnere mich nicht daran. Ich habe mir meine Rüstung selber schmieden müssen.
Ich starre auf den Lichtkreis an der Decke, bis mir die Augen tränen, dann erkenne ich, dass ich keine Wahl habe: Ich muss mich meinen Ängsten stellen, selbst den allerschlimmsten. Mit zitternder Hand hebe ich das Heft auf. Auch der Füller aus Stahl liegt darin. Ich blättere in den elfenbeinfarbenen Seiten. Da: neue Buchstaben, neue Wörter, neue Zeilen. Ich beginne zu lesen. Diesmal ist es eine Frau. Halle. Aufmerksam folge ich ihrem Lauf durch den Park, Wort für Wort. Der Hals. Die behandschuhte Hand, die ihn packt.
Mir stockt der Atem.
Warum?, frage ich mich verzweifelt. Warum passiert mir das? Und vor allem, was ist …
das?
Wer ist Halle? Was macht sie? Warum habe ich über sie geschrieben? Warum habe ich mich gefühlt, als wäre ich … sie? Stehe ich vielleicht in mentalem Kontakt mit einem Mörder? Dem Mörder von Alek, von Giulian und … Halle?
Vielleicht ist es das.
Ich bin im Bewusstsein des Mörders.
Ich bin das Bewusstsein des Mörders.
Ich träume ihn.
Er trägt Lederhandschuhe.
Und …
Ich schlucke, aber mein Mund ist vollkommen trocken. Meine Kehle fühlt sich gläsern an. Mein Kopf sendet schwache Reizwellen aus, wie nach einem irrsinnigen, inzwischen vergangenen Schmerz. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich mir vorstelle, dass auch diese Geschichte wirklich passiert ist, dass sie gerade passiert oder noch passieren wird, wird mir ganz elend.
Alek. Giulian. Halle.
Die Achterbahn.
Was hat Halle mit der Achterbahn zu tun?
Ich möchte schreien, weglaufen, überhaupt nicht existieren. Warum ich?, frage ich mich immer wieder. Was will man mir sagen?
Und wer ist das, der … in meinem Kopf spricht?
Ich schlage das Heft zu und starre es an. Denke wieder an den Tag, an dem ich es gekauft habe, an den plötzlichen und grundlosen Wunsch, es zu besitzen. Welche Rolle spielt das Heft bei alledem?
Ich verstecke es unter der Decke und gehe ins Bad. Unter dem Wasserstrahl fange ich auf einmal an zu weinen. Ich weine wie sonst nie in meinem Leben. Alma weint nicht. Ich schon. Aber wer bin ich? Die Tränen weichen meinen Panzer auf wie Essigsäure eine Kalkkruste. Der Dampf beschlägt die Glaswand der Dusche. Ich erkenne mich nicht wieder: Wo ist meine Selbstsicherheit hin, mein aggressiver Umgang mit Problemen? Ich habe immer alle Hürden genommen, aber jetzt sehe ich mich mit etwas konfrontiert, das eine Nummer zu groß für mich ist, etwas Ungeheurem, das droht, mich zu zerschmettern.
Nach der ersten Geschichte habe ich mir noch eingeredet, dass es sich um einen schrecklichen Zufall handelt, einen bösen Streich des Schicksals, einen grausamen Scherz meiner Schlafwandlerwelt. Doch jetzt kann ich mich nicht mehr dumm stellen. Jemand oder etwas ist dabei, mich in eine grauenhafte Falle zu locken. Ich fühle mich wie eine Marionette in seinen tödlichen Fängen.
Gibt es so etwas wie einen Herrn der Träume? Oder der Alpträume?
Ein Wesen, das die Schlafwandler beherrscht?
Ich gebe mich dem strömenden Wasser hin. Der warme Strahl tut mir gut, reinigt meine Gedanken, wäscht die Angst von mir herunter und lässt die eine, furchtbare Gewissheit zurück: Ich muss mich dieser Situation stellen, worum auch immer es dabei gehen mag. Und mir fällt nur ein Weg ein, das zu tun: den Ort des
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