Nacht
Rucksack und sehe nach. Roth. Er hat den Bericht über den Erhängten im Vergnügungspark verfasst.
So sieht also ein echter Journalist aus. Ich brauche mich noch nicht einmal umzudrehen, denn in dem großen Spiegel zu meiner Linken kann ich die Szene zwischen den beiden perfekt verfolgen. Roth hat schwarze glatte Haare, gerade so viel zerzaust, dass es gewollt wirkt, helle, möglicherweise blaue Augen und einen Dreitagebart, ebenfalls beabsichtigt, da könnte ich wetten. Er ist diese Sorte Typ »Ich halte so viel von mir selbst, dass ich nichts auf die Meinung der anderen gebe«. Seine Kollegin steht ihm in nichts nach: blond, kurze Haare, hellbraune Augen. Sie fällt in die Kategorie der hübschen Frechen. Ihr entschlossener Blick verrät die Karrierefrau.
Sie bestellen zwei Kaffee. Roth nimmt keinen Zucker. Sie auch nicht.
»Ich weiß, Eva, überlass das ruhig mir …«
»Damit du dir alles durch die Lappen gehen lässt? Hör zu, ich hab da eine bessere Idee …«
Sie dämpfen ihre Stimmen, so dass ich nichts mehr hören kann. Dann steht sie auf, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und geht. Er sieht ihr nach, lächelt zufrieden und nimmt seine dunkelgrüne Tasche von dem Stuhl neben sich. Daraus holt er einen Notizblock mit schwarzer Lederhülle und einen billigen Stift hervor, mit dem er etwas zu schreiben beginnt. Hin und wieder legt er ihn ab, um seinen Kaffee zu schlürfen.
Das ist der Moment für meinen Auftritt.
»Entschuldige? Könntest du mir kurz deinen Stift leihen? Meiner schreibt nicht mehr«, sage ich und halte ihm meinen Stahlfüller hin.
Er begutachtet mich von Kopf bis Fuß. Seine Miene sagt mir, dass das Urteil positiv ausfällt. Ich weiß, wie ich auf Männer wirke, und er macht dabei keine Ausnahme.
»Aber mit Vergnügen«, antwortet er und reicht mir seinen Kuli. Wir halten beide ein Ende des Stifts, der zwischen uns schwebt.
»Schwarz?«, frage ich.
»Ausschließlich!«
»Sehr gut. Ich schreibe auch gern mit Schwarz.«
»Schwarz ist immer Schwarz. Blautöne gibt es so viele.«
Ich nicke. So etwas habe ich noch nie gemacht. Einen völlig fremden Mann angesprochen. Normalerweise läuft das umgekehrt. Aber wenn mir vor einiger Zeit jemand gesagt hätte, dass ich mal Nachforschungen in einer Mordserie anstellen würde, hätte ich ihm wohl auch ins Gesicht gelacht.
»Bist du Schriftsteller?«, frage ich mit einem Blick auf sein Notizbuch.
»Nein, Journalist.«
»Also einer von denen, die langweilige Nachrichten mit lauter Quatsch ausschmücken, in der Hoffnung, sie interessanter zu machen?«
Er sieht mich belustigt an. »Eigentlich schreibe ich eher interessante Nachrichten, die ich mit meinem Quatsch langweilig mache …«
Ich starre ausdruckslos zurück.
»Das war ein Scherz«, sagt Roth. »Lächelst du nie?«
»Ich vermeide es möglichst. Ich mag keine Mimikfalten.«
Er lacht. »Und was machst du sonst so? Abgesehen von der Schule, meine ich.«
Ich ignoriere die Spitze und konzentriere mich auf mein Vorhaben: an Informationen über die Morde zu kommen.
»Ich bin auch Journalistin.«
»Tatsächlich?« Das überrascht ihn.
»Ich schreibe für die Schülerzeitung.«
»Ah, verstehe. Und was ist deine Rubrik? Die rosane? Mode und Klatsch?«
Sehr witzig. »Nein, die schwarze, schwarz wie die Tinte. Unfälle und Verbrechen.« Ich schwenke den Stift, jetzt habe ich ihn wirklich verblüfft.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Schülerzeitungen über so etwas berichten.«
Daraufhin stelle ich mir das Gesicht von Scrooge vor, wie er in der Zeitung
seiner
Schule einen Artikel mit der Überschrift » WELLE DER GEWALT IN DER STADT : DRITTER UNGEKLÄRTER MORDFALL « liest.
»Es ist eine Nachricht. Und nicht die einzige. Ich gebe dir eine Kostprobe: Der Tod ist Teil des Lebens.«
Er lacht wieder.
Ich fixiere ihn, so ernst ich kann.
»Okay, Spaß beiseite, womit beschäftigst du dich?«
»Ich arbeite an einem Artikel über den Mord im Nordpark.«
»Was?«
»Den Mord im Nordpark.«
»Alle Achtung. Du meinst es ernst. Möglicherweise könnte ich dir dabei behilflich sein.«
Genau das wollte ich hören.
»Wirklich? Das wäre toll … aber ich will dir keine Umstände machen.«
»Ach was. Ist mir ein Vergnügen.«
Ich unterdrücke meinen Widerwillen. »Dann danke.«
»Leider habe ich jetzt nicht viel Zeit, aber hier ist meine Nummer.« Er nimmt meine Hand und zieht seinen Stift aus meinen Fingern.
Ich kann es nicht fassen: Er schreibt mir seine Nummer auf die Hand. Was
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