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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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erlaubt der sich?
    Seine Finger sind sehr warm. Oder meine sind sehr kalt.
    Ich starre auf die schwarzen Ziffern, die sich überdeutlich von meiner weißen Haut abheben. »Ich benutze gewöhnlich Post-it-Zettel.«
    »Danke für den Tipp.«
    Ich nehme den Stift wieder an mich.
    »Übrigens, ich heiße Roth«, sagt er lächelnd. Dann steht er auf. Ich stelle fest, dass er groß ist und schlank, mit breiten Schultern und langen Beinen. In seinem Gesicht bemerke ich ein paar kleine Fältchen, gerade angedeutet auf der hellen Haut seiner Stirn. Er wird so um die fünfundzwanzig sein.
    »Alma«, entgegne ich und gebe ihm die Hand. Dann kehre ich zufrieden an meinen Tisch zurück. Kaum habe ich mich gesetzt, spüre ich wieder ein Stechen im Kopf. Ich presse die Zeigefinger auf die Schläfen. Nach ein paar Sekunden ist es vorbei.
    Um meine Rolle weiterzuspielen, hole ich das Heft mit meinen Notizen zu dem Gespräch mit Sarl aus dem Rucksack. Schreibe ungeordnete Gedanken auf, scharfkantige Bruchstücke eines Lebens, das mich bis vor kurzem noch widerspiegelte, jetzt aber nur zusammenhangslose Fragmente reflektiert. Ein zerbrochener Spiegel, sieben Jahre Unglück.
    Ich notiere Fragen, Zweifel, alles.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich Roth, der gerade seine lange, braune Wildlederjacke anzieht. Er weiß, dass ich ihn beobachte, und führt jede Bewegung mit einstudierter Langsamkeit aus.
    Beim Hinausgehen hebt er die Hand zum Gruß. Sein lächelndes Gesicht ragt aus einem breiten, gestreiften Schal heraus, den er sich um den Hals gewickelt hat.
    Ich erwidere sein Lächeln, wenn auch zurückhaltender, im Spiegel.
    Der wenigstens ist heil.

[home]
    Kapitel 42
    E in neuer Morgen.
    Für die meisten Menschen, meine Familie und meine Mitschüler eingeschlossen, folgt ein Tag auf den anderen wie einzelne Glieder einer Kette. Was mich betrifft, so habe ich mittlerweile den Eindruck, dass mir viele dieser Glieder fehlen, und zwar immer mehr. Als wäre alles normal, gehe ich zur Bushaltestelle. Ich höre Musik, um mich abzulenken, aber die Klänge verstärken nur meine düstere Stimmung, spülen sie an die Oberfläche wie Algen, die ein zu wildes Meer vom Grund gerissen hat.
    Als der Bus kommt, drängele ich mich hastig zwischen die Aussteigenden, ernte dafür ein paar böse Blicke und Beschimpfungen, kann aber einen freien Platz nahe der Tür erobern. Im Bus herrscht eine schweißdurchtränkte Wärme. Wie gewohnt sehe ich mich um: Schüler mit ihren Rucksäcken über der Schulter und mit schlaftrunkenen Gesichtern, Arbeiter mit stumpfen Blicken, jeder allein mit seinen Gedanken an Einsamkeit, an Kinder, die Probleme machen, an abwesende Ehemänner oder nörgelnde Ehefrauen. Niemand sieht glücklich aus.
    Ich am allerwenigsten.
    Hinten, neben dem Fahrkartenentwerter, steht ein dunkel gekleideter Mann. Trotz des tief aufgesetzten Hutes, der einen großen Teil seines Gesichts verdeckt, fällt mir eine Besonderheit auf: Er scheint keine Haare zu haben. Er hält sich mit einer behandschuhten Hand an der Querstange über ihm fest.
    Der Schreck durchzuckt mich wie ein Blitz. Ich denke an die behandschuhte Hand aus dem Nebel, die nach Halle greift. Dann an den seltsamen Typen, der mir vor ein paar Wochen fast bis zur Schule gefolgt ist. Der hinter meinem Fahrrad herzulaufen schien.
    Er sieht ihm ziemlich ähnlich. Oder ist er das sogar?
    Nein, nicht möglich. Der hinterm Fahrrad war kleiner und untersetzter.
    Vielleicht verfolgt mich dieser Mann auch.
    Ich fürchte, ich werde es bald herausfinden. Meine Haltestelle ist nicht mehr weit. Im Schutz der vielen Leute um mich herum beobachte ich den Mann eine Weile. Er sieht nach unten, ohne auch nur ein Mal den Kopf zu wenden. Die ganze Fahrt über. Kurz bevor der Bus hält, springe ich auf und zwänge mich zum Ausgang. Er rührt sich nicht.
    Auf dem Gehweg drehe ich mich um. Er ist nicht da.
    Erleichtert seufze ich und mache mich auf den Weg zur Schule. Nach ein paar Schritten sehe ich mich erneut um, nur um ganz sicherzugehen – und traue meinen Augen nicht: Der Mann ist direkt hinter mir! Er blickt prüfend auf seine Schuhspitzen und tut ganz harmlos.
    Ich gehe schneller. Er auch. Ich biege rechts in eine Querstraße ab. Er auch. Also fange ich an zu rennen. Ein Ohrhörer rutscht mir aus dem Ohr und schlenkert im Rhythmus meiner Flucht und meines Herzklopfens hin und her.
    Ich biege nach links ab. Er lässt nicht locker, im Gegenteil, er scheint aufzuholen. Aber wer ist er? Warum verfolgt er mich?

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