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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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aufgesammelt habe.
    Ich ziehe die Kapuze über und gehe los, versuche, den riesigen Pfützen in dem stark beschädigten Kopfsteinpflaster auszuweichen. Überall Schlamm und braunes Wasser. Wasser und nochmals Wasser. Immer und allgegenwärtig. Diese Stadt trieft vor Wasser, sie ernährt sich von Wasser. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass man davon abbeißen kann. Ich schlucke einen Bissen hinunter, der mir jedoch wieder aufstößt und sich dabei mit einer plötzlichen, lange angestauten Wut vermengt, die ich nicht kontrollieren kann. Es ist Wut über meine Hilflosigkeit, die mich jeden Tag und jede Nacht an eine Rolle kettet, die nicht die meine ist, an furchtbare Ereignisse, von denen ich nichts wissen will, auch nicht aus den Zeitungen. Es ist Wut, mit niemandem darüber sprechen zu können, weder mit meiner Familie noch mit meinen Freundinnen, noch mit Morgan. Ich fühle mich allein, und ich bin allein in diesem Kampf mit einem unsichtbaren Monster, das jeden Moment über mich herfallen kann. Im Schutz der beigen Plastikmarkise der Bar starre ich in den Regen, der auf das geschundene Pflaster niederprasselt.
    Dann betrete ich das Café. Es ist eine kleine, alte Bar mit winzigen Tischchen, allesamt völlig verschieden und unregelmäßig aufgestellt. Der Tresen gegenüber dem Eingang ist schwarz und aus einem matt glänzenden Material, wahrscheinlich Holz. Hier drin wimmelt es von Gästen. Ein magerer, knochiger Barmann müht sich mit ruckartigen, präzisen Bewegungen, alle Wünsche zu erfüllen. Vor der Spiegelwand in seinem Rücken ragt ein Wald aus bunten Flaschen auf. Ein wohliger Duft von frischen Croissants und Kaffee liegt in der Luft. Ich setze mich an einen Tisch und bestelle einen Kaffee bei einer Frau um die fünfzig mit leerem Blick und vollen Lippen. Sie schaut mich dabei weder an, noch sagt sie etwas, sondern nimmt nur meine Bestellung auf und verschwindet hinterm Tresen.
    Vor meiner dampfenden Tasse sitzend, versuche ich, wieder zu klarem Verstand zu kommen, um die Fakten zu rekonstruieren. Ich schreibe die Geschichte über Alek, und der erste Mord geschieht in der darauffolgenden Nacht. Die zweite Geschichte, die von Giulian, wird durch Naomis Anruf unterbrochen, und auch in diesem Fall passiert der Mord in der folgenden Nacht. Dritte Geschichte, Halle – der Mord geschieht zwei Tage später. Der Abstand wird größer, als könnte ich mit meinen Geschichten den Augenblick der Tat immer früher vorhersehen. Die Tat selbst beschreibe ich jedoch nie, weil ich stets nur bis zu dem Punkt komme, an dem das Opfer angegriffen wird. Was hat das alles zu bedeuten? Dass ich ein Medium oder so was Ähnliches geworden bin? Kann ich wirklich eine unmittelbar bevorstehende Gefahr »spüren«, wie es in dem Buch heißt, das mir Doktor Mahl geliehen hat?
    Möchte wissen, wann die ganze Sache genau angefangen hat: die Alpträume, die Kopfschmerzen … Ich habe eigentlich schon lange Kopfschmerzen, schon lange Alpträume – seit dem Tag dieses verdammten Unfalls. Als hätte sich nach diesem Aufprall, den ich als Einzige überlebt habe, etwas in meinem Kopf verändert.
    Das Ergebnis ist, dass ich nun Visionen habe. Aber mir fehlt jedes Mal, in jeder Erzählung, ein entscheidendes Detail: der Mörder. Es gelingt mir nicht, ihn zu sehen, also konzentriere ich mich gedanklich weiter auf Tito und seine Bande.
    Vielleicht hätte ich dem Kommissar seinen Namen nennen sollen.
    Vielleicht werde ich es noch tun.
     
    In meine Überlegungen versunken, merke ich gar nicht, wie die Zeit vergeht. Die große Wanduhr überm Tresen, rund und weiß mit einer Kaffeebohne in der Mitte, zeigt schon fast elf. Aus dem Polizeikommissariat kommt eine Gruppe von Leuten, darunter einige der Journalisten, die ich vor ein paar Stunden beim Hineingehen bemerkt habe. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, gehen auf die Bar zu. Der Rest des Grüppchens zerstreut sich im Regen.
    Ich warte.
    Sobald die beiden Journalisten hereingekommen sind, nehmen sie ihre Umhängetaschen ab und setzen sich an einen Tisch nicht weit von mir. Hier und da schnappe ich ein paar Worte auf.
    »… das waren alles Profis.«
    »Ohne erkennbares Motiv …«
    »Aber ganz ähnlich inszeniert …«
    »Wenn wir die Chance nicht verpassen wollen …«
    »Die Story gehört uns, Roth … Wir werden sie alle alt aussehen lassen!«
    Roth? Woher kenne ich diesen Namen? Na klar! Ich habe ihn neulich in der Zeitung gelesen. Ich fische das zerknitterte Exemplar aus meinem

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