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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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meinen Mund mit dem Schal. Links von mir brodelt bedrohlich der Fluss. Die verlassenen Lagerhäuser auf der anderen Seite scheinen das dunkle Wasser durch riesige zerbrochene Fensterfronten zu beobachten; Möwen suchen dort Zuflucht für die Nacht und schreien im Wind wie hungrige Kinder. Mit Brettern vernagelte Holztüren versperren den Zugang zu einer Vergangenheit, von der nur noch ein paar alte, achtlos vor die roten Mauern geworfene Kisten zeugen.
    Ich sehe zum Himmel auf, er ist dunkel und erloschen. Mit den Händen in den Jackentaschen setze ich meinen Weg fort. Meine Haare werden aufgewirbelt, als wollte sie mir jemand ausreißen. Ein Stück weiter vorn verbreitert sich der Kai zu einem Platz, über den einige ordentlich in Reih und Glied stehende Bäume wachen. Dahinter erhebt sich ein weiterer Speicher, der genauso aussieht wie die anderen, aber komplett restauriert ist. Breite, moderne Fenster in grünen Rahmen zieren die Fassade, die große Eingangstür ist ebenfalls grün lackiert und steht offen. An der Wand daneben gibt ein diskretes weißes Schild in schwarzen Lettern den Namen der Zeitung wieder.
    Zwei Terrakottatöpfe mit hochstämmigen, glänzendblättrigen Pflanzen flankieren den Eingang. Theaterscheinwerfer strahlen das Bühnenbild an und setzen die Illusion fort, dass alles ringsherum nicht existiert.
    Entschlossen gehe ich auf eine der automatischen Türen zu, die mit einem leisen Zischen vor mir zur Seite gleitet. Ich bin sofort beeindruckt von den außergewöhnlich hohen Decken, die in einem strahlend hellen Weiß gestrichen sind. Der Eingangsbereich vor der Redaktion ist klein und klar strukturiert. Sofas mit grünen Polstern und Zeitschriften auf der einen Seite, Getränke- und Snackautomaten auf der anderen. Hinter einem Empfangstresen aus dem gleichen hellen Holz wie der Fußboden wartet eine hübsche, lächelnde junge Frau darauf, mir ihre Hilfe anzubieten. Eine riesige Glasfront in ihrem Rücken gibt den Blick auf die gesamte Redaktion frei, die aus zwei Ebenen hektischer Aktivität besteht, dazu überall Lampen und Computerbildschirme, Stapel von Büchern und Zeitungen.
    »Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«
    Ich frage mich, ob man als Rezeptionistin geboren wird. Wie schafft man das, zehn Stunden am Tag zu lächeln, egal, wer vor einem steht?
    »Ich bin mit einem Ihrer Journalisten verabredet … Ich weiß nur seinen Namen, Roth.«
    »Wen darf ich ankündigen?«
    »Alma.«
    »Einen Augenblick bitte.«
    Sie drückt eine Reihe von Tasten auf einer Telefonanlage mit allem Drum und Dran.
    »Roth, hier ist eine junge Dame für dich … Alma … Ist gut.« Sie spricht in ein Headset. »Wenn Sie einen Moment Platz nehmen möchten, er wird Sie gleich abholen.« Ohne ihr Lächeln zu unterbrechen, zeigt sie auf eines der Sofas an der Wand.
    Ich habe mich noch nicht gesetzt, da marschiert Roth schon durch eine Tür hinter der Rezeptionistin.
    »Hallo, herzlich willkommen.«
    »Danke.«
    »Folge mir, ich zeige dir die Redaktion.«
    Er führt mich in eins der weitläufigen Großraumbüros, in dem Hunderte von weißen Schreibtischen stehen, Kante an Kante wie Scrabbleteile. Tafeln aus hellem Holz begrenzen die einzelnen Bereiche, die mir vorkommen wie Schuhkartons. Gedämpftes, aber andauerndes Hintergrundgemurmel ist zu hören wie das Summen in einem Bienenstock. Als ich nach oben sehe, bemerke ich, dass die Decke mit einem gewellten, weißen Kunststoffmaterial verkleidet ist, das das Licht im Raum verteilt und einen Widerschein schafft wie die Sonne bei bewölktem Himmel. Ich blinzele geblendet. Um mich herum sind lauter Leute, die telefonieren oder miteinander diskutieren, aber es ist unmöglich zu verstehen, was sie sagen. Alles ist wie in Watte gepackt, wie versiegelt in dem knappen Raum, der jedem zur Verfügung steht. Ich fühle mich regelrecht benommen.
    »Gefällt es dir?«
    »Hübsch …«
    »Nach einer Weile gewöhnst du dich daran.«
    Roth ahnt wohl, was ich wirklich denke.
    »Woran?«
    »Hier zu arbeiten. Anfangs kommt es einem sicher komisch vor, klar, aber dann macht es Spaß, mit all den anderen auf einem Haufen zu hocken.«
    »Sich gegenseitig zu inspirieren.«
    »Genau. Das hier ist mein Platz.« Er deutet auf einen Schreibtisch vor uns, der mit Zeitungen, Büchern, Terminkalendern, geöffneten Kekspackungen und Getränkedosen so vollgemüllt ist, dass ich hinter dem aufgetürmten Berg noch nicht mal sehen kann, ob es einen Stuhl gibt.
    »Entschuldige die Unordnung. Ich

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