Nacht
demnächst noch einmal mit weiteren Fragen bei Sarl vorbeigehen.
»Gern geschehen«, gibt Roth zurück. »Lass mir deine Telefonnummer da. Dann kann ich dich erreichen, falls ich interessante Neuigkeiten habe.«
Sehr schlau, denke ich. Hoffentlich auch nützlich.
Ich schreibe meine Nummer auf einen Zettel.
»Ich werde guten Gebrauch davon machen«, sagt er.
»Was auch sonst.«
Er verabschiedet mich mit einem Küsschen auf die Wange.
Ich empfinde nichts als den Wunsch, endlich hier rauszukommen.
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Kapitel 44
A ls ich die Redaktion verlasse, ist es draußen noch finsterer geworden.
Ich überlege, ob es nicht sicherer wäre, einen Umweg durch den Hafen zu machen, anstatt den Weg zurückzugehen, den ich gekommen bin. Schon bei dem Gedanken, wieder an diesen verlassenen Lagerhäusern vorbeizulaufen und über den von gelblichen Lichtschwertern zerteilten Kai, gruselt es mich. Ich gehe in Richtung Hafen, merke aber bald, dass das nicht die beste Entscheidung war. Hier sind die alten Straßenlampen noch seltener und altersschwächer. Manche blitzen nur noch zuckend auf und verwandeln die Szenerie in eine Vorstadtdisko zur Sperrstunde.
Der Wind hat ein wenig nachgelassen, ist aber immer noch eisig kalt. Ich ducke mich tiefer in meine Jacke. Im Weitergehen sage ich mir, dass mich jeder Schritt der Bushaltestelle ein Stück näher bringt. Unverständlich, dass bisher niemand auf die Idee gekommen ist, eine Fußgängerpassage direkt hinter dem Redaktionsgebäude zu bauen, so dass Besucher und Journalisten zu den öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen, ohne jedes Mal Angst vor einem Überfall zu haben. Andererseits werden sie wohl auch nicht von seltsamen Individuen mit Hut, Handschuhen und Sonnenbrille verfolgt.
Eine heftige Bö erfasst mich von hinten und schiebt mich vorwärts. Es ist albern, aber ich erschrecke mich zu Tode, als wäre dieser Wind der Atemstoß von jemandem hinter mir. Ich beginne zu rennen. Von der schrecklichen Befürchtung angetrieben, dass mich erneut jemand verfolgt, haste ich im Laufschritt die ganze alte Mole entlang und an den verlassenen Büros vorbei.
Als ich mich umdrehe, ist niemand zu sehen. Nichts ist zu hören, außer meinem schnaufenden Atem.
Ich komme zu einem alten Bootsschuppen, wo Skelette aus rostigem Eisen und Schiffsrümpfe aus morschem Holz in einer Art Massengrab vor sich hingammeln. Ich eile mitten hindurch und sehe kaum, wohin ich die Füße setze. Auf einmal spüre ich etwas an meinem Bein ziehen. Ich muss stehen bleiben und stelle fest, dass sich ein Metallhaken, wahrscheinlich die Spitze einer alten Angelharpune, auf Wadenhöhe in meine Hose gebohrt hat. Zum Glück hat er nur den Stoff erwischt, aber mein Herz schlägt trotzdem bis zum Hals. Ich atme tief durch und bücke mich, um mich zu befreien.
Genau in diesem Moment schiebt sich ein Schatten vor das matte Licht der Straßenlampen. Eine Hand nähert sich mir. Ich will fliehen, aber mein Körper reagiert nicht. Ich bin vollkommen gelähmt.
Jedes Mal, wenn du einen von denen triffst …
»Alma, ich bin’s«, flüstert Morgan.
Als ich zu ihm hochsehe und ihn erkenne, bricht ein Tränenstrom aus mir hervor, plötzlich und unaufhaltsam, wie ein zu lange eingedämmter Fluss.
Ich habe noch nie vor irgendjemandem geweint.
Er kniet sich vor mich hin. »Was machst du denn? Ich bin doch jetzt da. Sei ganz ruhig.«
»Mein Kopf platzt gleich«, stammle ich.
Er nimmt mich in die Arme und zieht mich hoch. Sein Griff ist fest und sicher. Gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Ich frage ihn nicht, wieso er hier ist, denn wenn ich ihn wirklich brauche, ist er einfach da. Das genügt mir im Moment.
»Gehen wir«, murmele ich.
Er nickt. Wir laufen mit schnellen Schritten, dicht nebeneinander.
Morgan sieht sich dauernd wachsam um, als würde er damit rechnen, dass jeden Moment etwas passieren könnte. Ich wische mir die Tränen ab. Inzwischen haben wir fast den Rand des Hafengebiets erreicht. Ich kann schon die Straße erkennen und sogar Morgans Auto. Ein Seufzer der Erleichterung entfährt mir.
»Geh schneller, Alma.«
»Warum? Was …?«
»Tu einfach, was ich sage.«
Sein Ton lässt keine Widerrede zu.
Ich erhöhe mein Tempo und fühle die Angst erneut in mir hochsteigen. Als ich mich umdrehen will, hindert er mich daran.
»Renn, mach schon!«
Die Straße vor uns erscheint jetzt wie eine unerreichbare Fata Morgana. Morgan zieht seinen Arm weg.
»Lauf zu meinem Auto, so schnell du kannst! Ich komme gleich
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