Nacht
nach.«
»Was ist los?«
»Keine Zeit für Erklärungen. Lauf!«
Ich renne, so schnell ich kann. Renne, ohne stehen zu bleiben, denn wenn ich das täte, könnte ich mich nicht mehr fortbewegen. Die Angst umhüllt mich wie ein dunkler, zu schwerer Umhang. Ich sehe die Lichter der Straße vor mir.
Dann drehe ich mich um, mein Herz rast wie eine durchgeknallte Pumpe. In meinem Kopf pulsiert ein unaufhörlich hämmernder Schmerz. Im Lichtkegel einer Straßenlampe kann ich zwei schemenhafte Gestalten erkennen. Sie sind in einen heftigen Schattenkampf verstrickt.
Also habe ich mich nicht getäuscht. Jemand hat mich verfolgt. Schon wieder.
»Morgan!«
Ich will etwas tun, aber der Kampf dauert nur Sekunden. Eine der Gestalten verschwindet aus dem Licht, und die andere kommt auf mich zugerannt. Ich versuche idiotischerweise, mich hinter Morgans Auto zu verstecken, ratlos, was ich machen soll, während ich durch die Dunkelheit spähe, um zu kapieren, ob er es ist.
Die Gestalt nähert sich mit unsicheren Schritten. Ich warte.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos zerteilen die Nacht und treffen auf zwei hell leuchtende Augen.
Es sind seine.
Es ist Morgan.
Er geht an mir vorbei, steigt ins Auto und bedeutet mir, das Gleiche zu tun. Er wirkt erschöpft.
Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.
Morgan atmet schwer und hält sich den Kopf mit den Händen, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
»Was ist da passiert?«, frage ich.
»Es ist gutgegangen.«
Er spricht leise. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn verstanden habe.
»Willst du mir jetzt mal erklären, was das war?«
»Üble Leute, Alma.«
»Warum war der Kerl hinter uns her?«
»Ich weiß es nicht. Das Wichtigste ist, dass es jetzt vorbei ist.«
»Was hast du mit ihm gemacht?«
Morgan sieht mich stumm an. Ich kann das Gewicht seiner Gedanken fühlen, die um uns herumkreisen wie ein Schirm, ein Schutzschirm gegen die Welt.
»Er wird uns keinen Ärger mehr machen. Ich habe ihn ins Wasser geworfen. Die Strömung hat ihn fortgerissen.«
Mich gruselt es bei der Vorstellung, in den Fluss zu fallen, vor allem zu dieser Jahreszeit.
»Wird er wiederkommen?«
»Er nicht.«
»Und du, bist du okay?«
»Mir geht’s gut. Mach dir keine Sorgen.«
»Aber … wieso bist du überhaupt hier? Bist du mir auch gefolgt?«
Er mustert die Straße vor und hinter uns. »Vertrau mir und sei vorsichtig.«
»Aber …«
»Du darfst abends nicht allein zum Hafen gehen! Das darfst du nie wieder tun! Verstanden?«
Jetzt ist er beinahe wütend. Er packt mich am Handgelenk und drückt fest zu. Seine Augen blicken wild, seine Pupillen sind geweitet und zucken. Er erschreckt mich.
»Versprich mir, dass du nicht mehr allein in der Dunkelheit herumläufst. Das ist gefährlich. Hast du mich verstanden?«
»Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit.«
»Es ist nicht die Dunkelheit, vor der du Angst haben musst. Sondern vor denen, die sie bewohnen.«
»Ich glaube nicht an Gespenster. Auch nicht an Kreaturen der Nacht.«
Morgan erwidert nichts darauf. Schüttelt nur den Kopf. »Dir ist nicht klar, in was für eine Gefahr du dich begibst. Die Stadt ist nicht sicher.«
Das ist mir nur allzu klar, leider.
»Ich bin kein Kind mehr. Außerdem hast du nicht über mein Leben zu bestimmen.«
Sein Blick nimmt bläuliche Schattierungen an und leuchtet mehr denn je in der Nacht.
Langsam nähere ich meine Hand seinem Gesicht. Es ist nicht verschwitzt, nicht mal erhitzt. Ich streichele leicht darüber und spüre seine weiche Haut unter meinen Fingerspitzen. Er sieht mich an und lässt mich gewähren. Dann streichelt er meine Hand. Sie ist sehr kalt. Er drückt sie und führt sie an seine Lippen. Ich halte ihn nicht davon ab und warte. Als ich seinen Mund in meiner Handfläche spüre, schließe ich die Augen, von einem Gefühl überwältigt, das ich bisher nicht kannte. Wie Eis, das mich verbrennt, mich wärmt und tief in mir schmilzt.
Es ist, als würde ich mich zum ersten Mal lebendig fühlen.
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Kapitel 45
M ein Schlaf ist bleischwer in dieser Nacht, am Morgen bin ich benommen, fast wie narkotisiert. Noch bevor ich die Augen öffne, stürzen die Erinnerungen an den vergangenen Abend auf mich ein und setzen sich zu einem Bild zusammen.
Nur mühsam stehe ich auf und gehe ohne einen Blick aus dem Fenster ins Bad. Es ist still in der Wohnung. Vielleicht sind sie schon alle weg. Ich genieße diesen Frieden und erledige alles mit großer Langsamkeit. Ich habe Angst, dass die
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