Nacht
Sekten-Höhle gewesen ist, ob er dort etwas gefunden hat, das ihn weiterbringt. Oder ob er diese Schweine sogar schon verhaftet hat.
Ich stehe auf.
Ich muss rausgehen und eine Zeitung kaufen. Verrückt, denke ich, ich habe noch nie so viele Zeitungen gelesen wie im vergangenen Monat. Vor den Geschichten in meinem violetten Heft war mir die Welt total egal.
Ich ziehe Jeans an, einen Pulli und die bequemsten Turnschuhe, die ich habe. Dann werfe ich mir eine Jacke über und verlasse mein Zimmer. Im Wohnzimmer guckt Lina Zeichentrickfilme. Sie wirft mir einen schnellen, aber eindringlichen Blick zu, als würde sie dem Lauf meiner Gedanken folgen. Da fällt mir ihr Glöckchen ein. Ich kehre in mein Zimmer zurück und suche es aus der dicksten Winterjacke hervor. Es mag albern erscheinen, aber als ich es finde, bin ich erleichtert. Vielleicht hätte es mich beschützt, wenn ich es in den Momenten der Gefahr bei mir gehabt hätte. Ich stecke es in die Hosentasche und nehme mir vor, es nicht mehr zu vergessen.
Dann gehe ich zu meiner Schwester und streiche ihr über die feinen, weichen Haare.
»Tschau, Kleines.«
Ich zeige ihr das Glöckchen. Sie lächelt und öffnet leicht den Mund, doch über ihre rosigen Lippen kommt nur ein schwacher Seufzer, nicht stark genug, um die von Jahren des Schweigens beschwerten Worte zu transportieren.
Jenna steht vorm Herd.
»Gehst du weg?«
»Ich will eine Zeitung kaufen.«
»Sei zum Mittagessen wieder da, Alma. Gad kommt auch.«
»Was kochst du?«
»Entenbraten.«
»Wirklich?«
»Na ja, ich versuche es.«
Meines Wissens hat sie noch nie so etwas Aufwendiges gemacht.
»Es riecht nicht schlecht.«
Das scheint sie zu freuen.
»Danke. Also, komm bitte nicht zu spät.«
Aus Evans geschlossener Tür dringen weder Geräusche noch ohrenbetäubende Musik, nichts, gar nichts. Vielleicht bewirkt diese Ente Wunder …
Ich stecke das Glöckchen wieder ein und gehe.
Draußen scheint lauwarm die Sonne und macht Hoffnung. Ich sehe zu den Bäumen hinauf, die die Straße säumen. Hier und da zeigen sich an den dürren Zweigen schüchtern erste kleine Knospen, und ein lebhaftes Zwitschern weiter oben erinnert mich daran, dass nach dem Winter immer neues Leben erblüht.
Vor dem Kiosk steht eine Traube von Menschen, die angeregt miteinander debattieren. Ich bahne mir einen Weg zu den Zeitungen, sehe aber sofort, was los ist. Der Kiosk ist mit Schlagzeilen tapeziert: »Sekte junger Satanisten verhaftet. Mögliche Verbindung zu den jüngsten Mordfällen?«
Ich platze fast vor Freude. Sarl hat es getan! Er muss eine Razzia bei der Adresse durchgeführt und Tito und seine Bande verhaftet haben.
Ich kaufe die wichtigsten Tageszeitungen der Stadt und entferne mich von den Leuten, um eine abgelegene Bank zu suchen und in Ruhe zu lesen. Den Berichten zufolge ist die Polizei in einen verlassenen Rohbau am nördlichen Stadtrand eingedrungen. Die Sekte hatte im Kellergeschoss ihren privaten Tempel eingerichtet, mit lauter auf den Kopf gedrehten Kruzifixen an den blutbeschmierten Wänden, einem kleinen Altar mit einer vollen Hostienschale, einigen liturgischen Gegenständen, beschmutzt mit Blut und menschlichen Körperflüssigkeiten, und mehreren Käfigen, in denen total verängstigt zwei schwarze Kätzchen und einige Hühner hockten.
»Mein Gott.«
Das reinste Horrorkabinett. Ich mag mir das gar nicht ausmalen. Eilig überfliege ich die Artikel auf der Suche nach dem, was mich am meisten interessiert. Zuerst stoße ich auf keinen Namen, doch in der zweiten Zeitung ist ein grobkörniges Foto von den Festgenommenen abgedruckt, auf dem ich ohne Zweifel Tito erkenne: die Mandelaugen, den Pferdeschwanz.
»Ja!«, rufe ich und drücke die Zeitung an die Brust. Sie haben ihn geschnappt.
Es ist noch nicht klar, was der Bande zur Last gelegt wird, aber wenigstens werden sie ein paar Tage in einer Zelle verbringen. So wird vielleicht auch die grauenvolle Mordserie unterbrochen, die mich quält.
Abrupt stehe ich von der Bank auf.
Ich muss die Artikel Naomi zeigen.
[home]
Kapitel 49
D as Viertel, in dem Naomi wohnt, vermittelt mir stets dasselbe Gefühl: leere Perfektion. Eine Frau schiebt gedankenverloren einen Kinderwagen, dann richtet sich ihr Blick auf mich. Sie nimmt mich kaum wahr und sieht gleich wieder weg, als das blonde Engelchen in seinem Wagen einen dumpfen Laut ausstößt und ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht.
Wer weiß, ob ich je eine Familie haben werde, zumal ich noch nicht einmal
Weitere Kostenlose Bücher