Nacht
so bald wie möglich geschehen.«
Naomi gibt einen tiefen Seufzer von sich, als wollte sie ein böses Gift aus ihrem Körper ausstoßen.
»Lass mir ein bisschen Zeit, Alma.«
Wir schweigen eine Weile. Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigt fast elf.
»Da ist etwas, was ich dich fragen wollte«, sagt sie dann.
»Schieß los.«
»Morgan. Was weiß er über das alles?«
Ich bin unschlüssig, was ich antworten soll. Sie soll sich nicht noch dem Urteil einer weiteren Person ausgesetzt fühlen. Vielleicht ist es vorläufig besser, ihr keinen zusätzlichen Druck zu machen, also entscheide ich mich für eine Halbwahrheit.
»Er weiß, dass dir übel mitgespielt wurde, und er weiß auch, wer dafür verantwortlich ist. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, wie ich dich ins Krankenhaus schaffen soll, und dann säßen wir jetzt vielleicht nicht hier, um in aller Ruhe darüber zu reden.«
»Ich bin alles andere als ruhig. Jetzt wird auch Morgan erfahren, was sie mit mir gemacht haben«, bemerkt sie und deutet auf die Zeitung.
»Naomi, er hat gesehen, wie es dir am Morgen nach der Party ging. Dazu braucht er nicht die Zeitung zu lesen.«
»Ich weiß. Wenn ich ihm jetzt in der Schule im Flur begegne, lächelt er mich an, was er vorher nicht gemacht hat.«
»Er ist ziemlich feinfühlig.«
»Dann wird er nicht alles seinen Freunden erzählen? Ich werde nicht vor der ganzen Schule als naives Dummchen dastehen? Werde nicht wie Seline enden?«
»Hör auf damit! So was will ich nicht von dir hören. Das mit Seline ist eine andere Geschichte. Und Morgan ist nicht Adam. Es stimmt, du warst leichtsinnig, aber niemand hätte ahnen können, dass du gleich einem Haufen wahnsinniger Satanisten in die Hände fällst.«
Bei meinen Worten fällt Naomi in eine Starre, ihre Augen sind unbeweglich auf einen Punkt an der weißen Wand gegenüber gerichtet. Sie blinzelt noch nicht einmal.
»Was hast du?«, frage ich besorgt.
Keine Reaktion.
»Naomi?« Ich schüttele sie.
Langsam kommt sie wieder zu sich. Aber ihr Blick ist leer und verzweifelt.
»Ich möchte ein bisschen allein sein«, sagt sie nur.
»Ist gut. Ich gehe.«
»Alma …«
»Ja?«
»Sei vorsichtig. Diese Typen, Tito und seine Freunde, die scherzen nicht. Wenn sie herausfinden, dass du es warst, die sie hat auffliegen lassen, werden sie sich an dir rächen.«
»Ich wüsste nicht, wie sie das herausfinden sollten. Tito weiß wahrscheinlich noch nicht mal, dass ich existiere.«
»Doch, er hat dich bemerkt.«
»Wie, bemerkt?«
»Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht. Du bist schön, und alle sehen dich an, ich fand das normal … Aber jetzt, nach dem, was passiert ist … Pass auf dich auf.«
»Okay. Du auf dich auch.«
Ich gehe und versuche, den unangenehmen Gedanken zu verscheuchen, dass Tito auf mich aufmerksam geworden ist. Schnell schlüpfe ich aus der Wohnungstür, um dem bohrenden Blick von Naomis Mutter zu entgehen. Als ich aus dem Haus trete, atme ich gierig die frische Luft ein und halte gerade noch rechtzeitig eine Träne an meinem Unterlid zurück.
Zwischen Wut und Rachedurst macht sich die Hoffnung breit, dass Naomi ihre Vergewaltiger doch noch anzeigt. Ich weiß, sie wird es tun.
Doch jetzt, da diese Angelegenheit fast erledigt ist, gibt es noch jemanden, der mir Sorgen bereitet: Agatha. Was macht sie wirklich, wenn sie zu Hause bleibt, statt zur Schule zu kommen? Warum benimmt sie sich immer so rätselhaft? Was hat sie mit Professor K. zu tun? Wozu braucht sie all diese chemischen Stoffe in der Küche? Und vor allem, könnte sie in irgendeiner Weise mit den Morden, mit Tito und seiner Sekte in Beziehung stehen?
Ich bin sicher, dass sämtliche Antworten auf meine Fragen in dem Muschelhaus zu finden sind. Und dorthin werde ich jetzt gehen.
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Kapitel 50
D ie Altstadt scheint an diesem Morgen ein neues Make-up zu tragen. Begünstigt durch die Sonne und die milderen Temperaturen, wirken die Häuser, trotz Alter und Verfall, irgendwie würdevoller, und die Menschen scheinen eher geneigt, hinaus auf die Straße zu gehen.
Nur die Straße, in der Agatha wohnt, zeigt dieselbe desolate Vernachlässigung wie bei meinem ersten Besuch. Das einzige Lebenszeichen stellt der eine oder andere streunende Hund dar. Hier scheinen noch nicht einmal die Bäume gemerkt zu haben, dass der Frühling vor der Tür steht.
Das bizarre Muschelhaus taucht in seiner ganzen beunruhigenden Imposantheit vor mir auf. Im Sonnenschein senden die mit
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