Nacht aus Rauch und Nebel
schon?
»Vielleicht träumt er«, sagte ich. Marian hatte das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt. Ihm fehlte nichts, sein Körper sei kerngesund, hatten die Ärzte gesagt, die sich nicht erklären konnten, weshalb er im Koma lag. Doch was wussten die schon von der Schattenwelt und dem Nichts, das sie und alle, die darin lebten, bedrohte?
Marians Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Über der Nase trug er eine Atemmaske und ab und an zuckten seine Pupillen unter den geschlossenen Lidern. Die grünliche Krankenhausbettwäsche ließ sein Gesicht kränklich aussehen und sehr verletzlich. In den letzten achtundvierzig Stunden war ich nicht von seiner Seite gewichen. Tagsüber hatte ich, so wie jetzt, neben ihm gesessen und seine Hand gehalten, manchmal sogar leise mit ihm gesprochen, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob er mich überhaupt hören konnte.
Nachts hingegen hatte ich dem Großmeister in Notre-Dame die Hölle heißgemacht, dass er die Nebelkönigin wieder flott machen sollte, damit wir zurückfahren und Marians Seele suchen konnten. Doch wie sich herausstellte, hatte das Nichts das Schiff fast vollständig zerstört. Es grenzte an ein Wunder, dass wir es zurück nach Eisenheim geschafft hatten. Und die Dame, an deren Tür ich wieder und wieder klopfte, um sie darum zu bitten, zu Fuß nach Marian zu suchen, war seit jener Nacht, in der sie uns gerettet hatte, wie vom Erdboden verschluckt.
Urplötzlich huschte ein Lächeln über Marians ansonsten reglose Züge. Ganz kurz nur flammte es auf, seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben, kaum zu erkennen unter dem Plastik des Beatmungsschlauchs. Dann war es vorbei.
»Vielleicht träumt er von dir«, sagte Ylva.
»Wer weiß.«
Ylva und ich blieben noch bis zum späten Abend bei Marian, hielten seine Hände und hofften, dass er tatsächlich träumte. Einen wunderschönen Traum voller Licht und Hoffnung. Denn Hoffnung gab es. Marian war nicht tot. Seine Seele war nicht im Nichts vergangen, sondern hing noch irgendwo dort draußen. Irgendwo zwischen den Welten. Die Frage war nur, in welche von beiden sie zurückkehren würde.
So wie Marians Seele zwischen den Welten schwebte, so hatte auch ich das Gefühl, irgendwo hängen geblieben zu sein. Ganz egal, wo ich mich in den nächsten Wochen befand, ob in Essen oder Eisenheim, immer fühlte ich mich fremd, unvollständig. Meine Tage verbrachte ich in der Schule und an Marians Krankenbett, meine Nächte beim Grauen Bund. Was um mich herum geschah, nahm ich wie durch einen Schleier wahr, so als beträfe es mich überhaupt nicht. Als beobachtete ich eine Fremde, die ein fremdes Leben lebte.
Mein Vater hatte dem Eisernen Kanzler als Strafe für seine Intrigen Hausarrest in seiner Villa verpasst, wo dieser nun auf seinen Prozess wartete und zusehen musste, wie seine treuen Schattenreiter mehr und mehr dem Wahnsinn anheimfielen. Immer öfter bekämpften die Wesen einander bis aufs Blut. Und da es nun keinen Befehlshaber gab, der sie im Zaum hielt, verringerte sich ihre Zahl innerhalb von Tagen auf weniger als die Hälfte. Diejenigen, die die Kämpfe überlebten, verließen ihren Horst in Dunsterrost kaum noch, und wenn, dann erschrak man in Eisenheim bei ihrem Anblick. Denn die Schattenreiter wurden mehr und mehr durchsichtig, ihre Finger bogen sich zu Krallen, ihre Gesichter wurden überlagert von geisterhaften Fratzen. Bald schon musste der Graue Bund die Aufsicht über die Schlafenden übernehmen und eines Tages, etwa sechs Wochen nach unserer Rückkehr aus dem Nichts, verschwand auch das letzte Mitglied der einst so mächtigen Armee des Eisernen Kanzlers.
Es geschah an einem Dienstag.
Mein Vater und ich statteten dem Eisernen Kanzler gerade einen Besuch in seiner Villa ab. Es hatte einige Wochen gedauert, bis sich der Zorn meines Vaters so weit gelegt hatte, dass er sich in der Lage fühlte, seiner ehemaligen rechten Hand gegenüberzutreten, und ich hatte angeboten, ihn zu begleiten, um ihm dabei den Rücken zu stärken. Wir nahmen den Weg durch den Palastgarten, der uns zu der wie immer hell erleuchteten Residenz des Kanzlers führte. Zwei Dutzend Kämpfer des Grauen Bundes bewachten das Gebäude, seit man Alexander von Berg hier inhaftiert hatte, armdicke Ketten sicherten Fenster und Türen und klirrten, als wir eintraten.
Wir fanden den Eisernen Kanzler im Wintergarten, der ihm als Arbeitszimmer diente. Er saß an seinem Schreibtisch und beugte sich über einen mit schnörkeliger Schrift
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