Nacht aus Rauch und Nebel
bedeckten Stapel Papiere. In der rechten Hand hielt er eine imposante Straußenfeder, in der linken ein kleines Tintenfässchen. Wie immer war seine Kleidung makellos, wenn auch seit einer halben Ewigkeit aus der Mode gekommen. Die Schuhe mit den silbernen Schnallen glänzten frisch poliert und der Rüschenkragen seines Hemdes war blütenweiß. Nur zwischen den Augenbrauen hatte sich eine Furche gebildet, die nicht so recht zu seinen sonst so perfekten Zügen passen wollte. Er sah nicht einmal auf, als wir den Raum betraten.
Mein Vater räusperte sich vernehmlich, doch der Kanzler reagierte noch immer nicht. Während mein Vater verunsichert einen Schritt auf den Kanzler zu machte und dann doch wieder stehen blieb, fackelte ich nicht lange. Mit ein paar Schritten war ich am Schreibtisch und nahm dem Kanzler die Feder aus der Hand. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte er damit gerade meinen Namen auf eines der Blätter gekratzt. Endlich hob er den Blick.
»Hallo«, sagte ich und legte die Feder am anderen Ende des wuchtigen Schreibtisches ab.
»Guten Abend, Hoheit«, antwortete der Kanzler.
»Was machen Sie da?« Ich deutete auf die Papiere.
»Ich schreibe unsere Geschichte auf«, antwortete der Kanzler. »Vielleicht wird es nachfolgende Generationen einmal interessieren, was einst mit Eisenheim und dem Weißen Löwen geschah. Vielleicht werden sie wissen wollen, wie unsere Welt war, bevor das Nichts kam.«
»Verstehe.« Also ging der Kanzler auch davon aus, dass wir es nicht schaffen würden, die Zerstörung der Schattenwelt aufzuhalten? »Nun, der Fürst und ich sind hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass schon bald eine Verhandlung gegen Sie stattfinden wird. Wir wollen Ihnen die Anklagepunkte verlesen, damit Sie sich auf Ihre Verteidigung vorbereiten können.«
Der Kanzler nickte, während ich mich nach meinem Vater umsah, der noch immer ein wenig unschlüssig im Türrahmen stand. Erst als meine Lippen ein stummes »Na los« formten, trat er neben mich. Selbst jetzt noch war die Macht zu spüren, die der Eiserne Kanzler all die Jahre über meinen Vater gehabt hatte. Sie lag wie ein unsichtbares Flirren in der Luft und schien den ansonsten in den letzten Wochen so viel entschlossener gewordenen Fürsten der Schattenwelt erneut in ein unmündiges Kind zu verwandeln. Es dauerte einen Moment, bis er endlich den Mut fand zu sprechen.
»Geht … geht es Ihnen so weit gut?«, fragte er.
»Bestens«, antwortete der Kanzler und schenkte ihm ein großväterliches Lächeln, das auf seinem jugendlichen Gesicht unfassbar deplatziert wirkte. »Danke der Nachfrage.«
»Schön.« Mein Vater kramte nun mit fahrigen Bewegungen eine Schriftrolle aus der Tasche seines Gewandes hervor und entrollte sie. »Alexander von Berg, Sie werden angeklagt des Hochverrates an der fürstlichen Familie, der Bedrohung unschuldiger Schlafender, der schweren Körperverletzung, des Diebstahls …«
Insgesamt hatten Fluvius Grindeaut, Madame Mafalda und die übrigen neuen Berater meines Vaters über vierzig Vergehen des Kanzlers zusammengetragen, und während mein Vater jedes einzelne von ihnen vorlas und seine Stimme mit jedem Punkt ein wenig fester wurde, schweifte mein Blick zu dem Gemälde über der Tür. Es zog mich nach wie vor magisch an. Ein unscheinbarer Kiesel auf einem Kissen, mehr hatte der Künstler nicht abgebildet. Und doch war es alles. Allein den Stein zu sehen, die feinen Striche, mit denen seine Maserung in Öl gebannt worden war, sorgten für ein warmes Gefühl in meiner Brust. Dies war das Haus meines ärgsten Feindes und dennoch war es, als würde ich nach Hause kommen.
Der Anblick des Bildes tröstete mich, streichelte meine Seele, die in der letzten Zeit so geschunden worden war. Wie hatte ich mich nur von diesem Stein trennen können, der doch ein Teil von mir selbst war? Ich war entzweit und meine Füße zuckten, als wollten sie mich von selbst zu den Pyramiden tragen. Die Sehnsucht bildete einen schmerzenden Kloß in meinem Hals. Nein, ich konnte es nicht leugnen, es war dieser Stein, den ich noch immer mehr begehrte als alles andere auf der Welt. Genau wie der Eiserne Kanzler, der nun all den Verbrechen lauschte, die er um seinetwillen begangen hatte.
Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich selbst so viel unschuldiger als der Kanzler war. Schließlich hatte ich, indem ich den Stein verborgen hatte, möglicherweise das Schicksal der Schattenwelt besiegelt. Vielleicht stimmte, was die Prophezeiung
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