Nacht aus Rauch und Nebel
er den Kopf in den Nacken und stieß ein herzhaftes Heulen aus.
»Sein Zustand ist also unverändert«, stellte Madame Mafalda fest und ließ sich in den noch freien Sessel neben ihrem Bruder fallen.
Dieser wiegte den Kopf hin und her. »Ja und nein«, sagte er. »Vorhin hatte er zumindest so etwas wie einen lichten Moment und hat mich sogar um eine Tasse Tee gebeten. Als ich ihm diese reichte, wusste er allerdings schon nichts mehr damit anzufangen und hat sie zerbrochen.« Er deutete auf einen dunklen, mit Scherben gespickten Fleck auf dem Teppich zu seinen Füßen.
Vorsichtig näherte ich mich dem verrückten Philosophen. Die Jahrzehnte, die er allein im Nichts verbracht hatte, machten es ihm anscheinend unmöglich, zurück in die Zivilisation und das menschliche Miteinander zu finden. Wie immer, wenn ich den dürren Greis in seinem Kittel aus Fellen sah (er weigerte sich beharrlich, andere Kleidung zu tragen), fragte ich mich, ob Marian ein ähnlicher Geisteszustand bevorstand. Mit Mühe verdrängte ich den Gedanken und schob mich Schritt für Schritt weiter auf Desiderius zu, bis ich schließlich in sein Sichtfeld trat.
Das Jaulen und Brabbeln verstummte. Er musterte mich mit großen Augen.
Es war merkwürdig, doch irgendetwas an meinem Anblick schien dem Philosophen jedes Mal einen Funken Verstand zurückzugeben. Bereits in den ersten Nächten nach unserer Expedition war uns dieser Umstand bewusst geworden: Einzig meine Anwesenheit konnte Desiderius dazu bringen, über seine Prophezeiung zu sprechen.
»Welt vergehen!«, rief er auch heute. »Stern … Mädchen … Schuld … die nicht mehr sind … kaltes Herz … Himmel … Mutter!«
Madame Mafalda notierte diese Wortbrocken gewissenhaft in einem ledergebundenen Notizbuch, in dem bereits etliche Seiten mit ähnlichen Ausrufen gefüllt waren. Aber so recht weiter brachten sie uns auch heute nicht.
Ich blieb noch ein paar Minuten stehen und dachte an Marian, der mir so sehr fehlte, dass es wehtat. Mein Hals zog sich zusammen. Würde er jemals wieder aus dem Koma aufwachen? Wie sollte ich nur ohne ihn weitermachen? Konnte ich das Nichts überhaupt –
Nein, ich musste mich zusammenreißen. Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen.
Desiderius wiederholte noch dreimal das Gleiche: »Welt vergehen … Stern … Mädchen … Schuld … die nicht mehr sind … kaltes Herz … Himmel!«
Inzwischen kannten wir alle diese Worte auswendig, eine Varianz brachte der Philosoph so gut wie nie hinein. Nur einmal hatte er »Leben« gerufen und vor drei oder vier Wochen waren ihm tatsächlich zusammenhängend die Worte »Ein Stern und ein Mädchen, deren Seelen verbunden« über die Lippen gekommen. Doch die meiste Zeit über interessierte er sich ausschließlich für seine Geistergeschichten, seinen Bart und die Läuse darin. Der Weissagung waren wir bisher jedenfalls kein Stück näher gekommen.
Ich ließ mich zwischen dem Großmeister und seiner Schwester auf dem flauschigen Teppich nieder und beobachtete den Gelehrten dabei, wie er kopfüber von der Gardinenstange herabbaumelte und in die Vorhänge sabberte. Ein wenig hoffte ich ja immer noch darauf, dass der alte Mann seine frühere Geistesschärfe wiedererlangen würde, von der der Großmeister noch heute mit Bewunderung sprach. Vielleicht, wenn er nur lange genug wieder unter Menschen war. Immerhin hatte sich der Nebel, der seinen Verstand umfing, erst vorhin zumindest für kurze Zeit gelichtet. Um ein Heißgetränk zu bitten, erschien mir doch als ein äußerst zivilisierter Akt für jemanden, dessen Lieblingsessen aus lebenden Ratten bestand.
»Hat er Sie denn wiedererkannt?«, fragte ich den Großmeister nach einer Weile.
Fluvius Grindeaut nickte. »Ja, ich glaube schon. Zumindest nannte er mich Fluvius, mein alter Freund. Allerdings ist sein Blick, wie gesagt, schon nach ein paar Sekunden wieder trübe geworden.«
»Mhm«, machte ich. »Schade. Aber wenigstens ist es ein Fortschritt. Vielleicht haben wir morgen mehr Glück.«
»Vielleicht«, sagte Madame Mafalda, die sich noch immer über ihre Notizen beugte.
Inzwischen war Desiderius in einen merkwürdigen Singsang verfallen. Wie eine Fledermaus hing er dabei unter der Decke, rollte mit den Augen und trällerte etwas von Geisterfingern vor sich hin. Das Ganze machte mir nicht den Eindruck, als würde uns heute Nacht noch ein Durchbruch in Sachen Prophezeiung gelingen, und so beschloss ich, mich zu verabschieden.
Schließlich gab es auch noch andere
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