Nacht aus Rauch und Nebel
behauptete, und ich trug tatsächlich die Schuld daran, dass das Nichts noch immer unaufhaltsam auf die Stadt zukroch und sie Stein für Stein verschlang. Was, wenn der Stein in den Fundamenten der Pyramide dafür sorgte? Was, wenn ich einfach losgehen und den Stein holen würde? Schon seit unserer Rückkehr befand ich mich in diesem Zustand ständigen Zweifels, wollte in der einen Minute losziehen und den Stein wieder an mich bringen, nur um mir selbst in der nächsten zu schwören, niemals ein solches Risiko einzugehen. Solange wir die vollständige Prophezeiung nicht kannten, war es viel zu gefährlich, den Stein zu holen, wer konnte schon vorhersehen, was als Nächstes passieren würde, und wer noch seine Hände nach dem Weißen Löwen ausstreckte?
Ich zwang mich dazu, meinen Blick von dem Gemälde zu lösen und ihm den Rücken zuzuwenden. Mein Vater war inzwischen bei Vergehen Nummer neunundzwanzig angelangt und ich beschloss zu tun, was ich ihm versprochen hatte, nämlich ihm beizustehen, indem ich ihm hier und da aufmunternd zuzwinkerte, wenn er mal wieder ins Stocken geriet. Doch schon drei Straftaten später prallte etwas mit einem so lauten Rums gegen die Glasfront des Wintergartens, dass wir uns alle drei instinktiv duckten. Auch die Kämpfer des Grauen Bundes, die das Gebäude umstellten, waren erschrocken zurückgewichen. Das Wesen vor dem Fenster war ein Schattenreiter, ein ruckender, zuckender Reiter mit Backenbart und Zylinder auf seinem mächtigen Schlachtross. Soweit wir wussten, war er der Letzte seiner Art, ein Schreckgespenst, das niemandem mehr echte Furcht einzuflößen vermochte. Immer wieder bäumte sich das Schattenpferd auf, in einem panischen Versuch, seinen Reiter loszuwerden. Dieser hielt sich jedoch tapfer, wenn auch in sich zusammengesunken im Sattel. Seine Haut war bleich und über und über von dunklen Adern durchzogen, als liege ein Spinnennetz über seinen Zügen. Die Wangen wirkten hohl und die spitze Raubvogelnase war kaum noch mehr als ein Knochenschnabel, der aus einem Totenschädel ragte. Dafür erkannte ich flackerndes Geisterhaar, das unter dem Zylinder hervorwehte, und flirrende Fingerspitzen, die sich in Mähne und Flügeln des Pferdes verfingen. Die Augen des Reittiers waren nach innen verdreht, der Reiter selbst umschlang seinen Kopf mit beiden Armen, als fürchtete er, er würde zerspringen. Und beide schrien, durchdringend, hoch.
Der Anblick war grauenhaft. Unfähig, uns zu rühren, beobachteten wir, wie Reiter und Pferd immer stärker überlagert wurden. Geisterfratzen wuchsen aus dem Rücken des Schattenpferdes und fraßen sich zugleich in sein Fleisch hinein. Auch der Reiter löste sich auf. Sein Backenbart kräuselte sich, bis auch aus ihm züngelndes Gespensterhaar hervorbrach, seine Augen verwandelten sich in dunkle Löcher. Anscheinend war das Paar mit letzter Kraft hergeflogen, vielleicht hatte sich der Schattenreiter Rettung durch seinen ehemaligen Befehlshaber erhofft. Doch dieser konnte nichts tun. Es dauerte nur wenige Sekunden, doch es erschien uns, als wären wir in einer Zeitschleife des Horrors gefangen. Reiter und Pferd verschwanden vor unseren Augen in den Schlünden der Geister, die ihre Köpfe und Beine fraßen, Knochen, Haut und Haar, bis nichts mehr übrig von ihnen war und die Dämonen mit flatterndem Haar in den Himmel entwichen.
Was hatte das zu bedeuten? Fassungslos sahen wir ihnen nach. Mein Vater wirkte vor Angst wie versteinert, während ich am ganzen Körper zitterte.
Der Kanzler stand auf und begann mechanisch, die Papiere auf seinem Schreibtisch zu ordnen. »Nun bin ich also allein«, flüsterte er in die Stille.
19
VERSCHWUNDE SEELEN
In der folgenden Nacht schauten Madame Mafalda und ich nach dem Dämmerungstraining wie so oft in letzter Zeit in Fluvius Grindeauts Turmzimmer vorbei, wo dieser sich um den verwirrten Desiderius kümmerte. Mir fiel es oft schwer, den Anblick des Gelehrten zu ertragen, doch Fluvius kümmerte sich mit Engelsgeduld um seinen alten Freund. Schon ein Stockwerk tiefer hörten wir Desiderius jaulen wie einen Wolf, der den Mond anheulte. Als wir den Raum betraten, fanden wir Fluvius Grindeaut in seinem Sessel vor dem Feuer vor, wo er in die Flammen starrte, während sich Desiderius an eine der Vorhangstangen klammerte und von dort aus seinen langen Bart um den Kronleuchter unter der Decke flocht. Er murmelte etwas von Geistern vor sich hin und nach jedem Knoten, den er in die verfilzten Haare machte, legte
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