Nacht aus Rauch und Nebel
Straßenzüge lang hörte ich nicht auf zu rennen. Auch wenn der Kanzler keinerlei Anstalten gemacht hatte, mich umzubringen, sicher war sicher. Erst als ich um die dritte Ecke bog, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Denn da war schon wieder dieses Lachen gewesen, tief und grollend, dass es einem in der Magengrube vibrierte. Doch die Gasse, in der ich stand, war menschenleer. Ich ließ Sieben in Hauseingänge und leere Fensterhöhlen leuchten. Noch immer war niemand zu entdecken. »Ist da jemand?«, fragte ich schließlich vorsichtig.
»Nein«, antwortete die dunkle Stimme. »Niemand.«
Eine Gänsehaut schob sich über meinen Nacken, ich presste die Arme um meinen Oberkörper. »Wer …«, stammelte ich. »Wer hat dann da gelacht?«
»Ich«, antwortete die Stimme. »Oder warst du es? Es könnte jeder gewesen sein.«
Die Stimme wurde von den Häuserwänden zurück in die Gasse geworfen. Der Hall machte es unmöglich, auszumachen, von wo sie kam. Noch einmal suchten meine Blicke Zentimeter für Zentimeter das Kopfsteinpflaster ab. »Wer bist du?«, fragte ich schließlich. »Kannst du dich zeigen?«
»Ich bin niemand und ja«, sagte die Stimme, während das Mauerwerk, auf das ich gerade noch gestarrt hatte, vor meinen Augen verschwamm, bis ich plötzlich eine riesige Katze erkannte, die direkt vor mir stand. Nein, es war keine Katze, sondern eigentlich eher ein Löwe mit bauschiger Mähne. Doch statt einer felligen Katzennase saß ein Menschengesicht inmitten des buschigen Haarkranzes. Jedenfalls waren es menschliche Züge, auch wenn ich nicht erkennen konnte, ob es sich um das Gesicht eines Mannes oder einer Frau oder gar eines Kindes handelte. Und auch der Schwanz des Wesens, dessen Schulter mir bis zum Bauchnabel reichte, war nicht der eines Löwen, sondern der eines gigantischen Skorpions, glänzend und stachelbewehrt. Etwa anderthalb Meter lang wölbte er sich über dem Rücken des Wesens.
Unwillkürlich wich ich in einen Hauseingang zurück. »Was … wer … warum hast du über mich gelacht?«, fragte ich.
Das Wesen verzog das Gesicht zu einem Schmunzeln und entblößte dabei spitze Reißzähne zwischen den menschlichen Lippen. Wieder war das Brummen zu hören. »Nun«, sagte es. »Du warst auf der Suche nach deiner Prophezeiung und bist dabei deinem größten Feind in die Arme gelaufen.«
»Woher weißt du das alles?«
»Oh, ich weiß vieles. Ich bin der Mantikor.«
»Der Mantikor?«, fragte ich. »Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass ich dir vielleicht helfen kann«, sagte der Mantikor und verblasste, ehe ich ihn fragen konnte, wie.
6
RUHESTÖRUNG
Am folgenden Tag wurde der schlimmste Albtraum meines Vaters wahr. Weil ich bei Wiebke übernachtet hatte, kam ich erst am späten Sonntagvormittag nach Hause. Genauso wie mein Vater und Christabel, die im Laden nach dem Rechten gesehen und Papas Schützlinge dort gefüttert hatten. Wir trafen im Treppenhaus aufeinander und zuerst schien alles wie immer. Christabels Pumps klackerten über die Fliesen, mein Vater schleppte sich vornübergebeugt die Treppe hinauf und ich trug eine Wanne voller Socken aus der Waschküche vor meinem Bauch. Wir diskutierten darüber, ob es Brokkoligratin oder Kartoffelsuppe zum Mittag geben sollte (ich war ja mehr für Brokkoligratin).
Dann erreichten wir die zweite Etage.
Lacksplitter übersäten den Boden. Unsere Wohnungstür stand offen. Aufgebrochen! Mein Vater wurde so totenblass, wie er es sonst nur in der Schattenwelt war. Er taumelte.
Sofort war ich bei ihm und fing ihn auf. Hinter mir polterte die Sockenwanne die Treppe hinunter. Behutsam zog ich meinen Vater von der Tür weg, während Christabel mit ihrem Handy die Polizei rief, sich die Schuhe auszog und kampfbereit in unsere Diele sprang. Ich konnte sehen, wie sie sich an der Wand entlangdrückte, um schließlich mit einem lauten Schrei das Wohnzimmer zu stürmen. Obwohl sie statt ihres Karateanzugs einen Pelzmantel trug, unter dem ein geblümter Kittel hervorblitzte, wirkte sie Furcht einflößender als jeder Schattenreiter. Es dauerte fünf quälende Minuten, bis sie jeden einzelnen Raum überprüft hatte.
»Hier ist niemand mehr«, rief sie schließlich. »Ihr könnt reinkommen. Anscheinend hatten sie es nur auf ein einziges Zimmer abgesehen.«
»Meine Papiere«, flüsterte mein Vater. »Wie konnte das passieren? Wir hatten doch unser Sicherheitssystem. Warum ist die Alarmanlage nicht losgegangen?«
Ich zuckte mit den Achseln und versuchte
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