Nacht aus Rauch und Nebel
zu müssen. Doch ich wagte es nicht. Stattdessen atmete ich flach und spielte mit dem Gedanken, dem Kanzler mein Knie in den Schritt zu rammen und abzuhauen. Eigentlich keine schlechte Idee, oder? Kurz entschlossen holte ich aus und … traf ins Leere. Mist!
Möglicherweise erahnte der Eiserne Kanzler mein Vorhaben, vielleicht war es aber auch nur Zufall, dass er in diesem Moment beiläufig ein Stück zurücktrat, sich gegen den Türrahmen lehnte und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an sein Kinn legte. Nachdenklich musterte er mich. »Nun, was wäre ein geeignetes Thema für unsere Unterhaltung? Musik? Literatur? Oder klassisch: das Wetter?«
Ich verdrehte die Augen. Langsam gingen meine Nerven mit mir durch. »Kommen Sie, lassen Sie das Theater. Wir hassen einander, na und? Nehmen Sie Rache an mir oder lassen Sie mich gehen.«
Der Kanzler legte den Kopf schief und sah mich eindringlich an. »Ich hasse dich nicht. Nur das, was du mir angetan hast.«
»Das macht doch keinen Unterschied.«
Er zuckte mit den Achseln, als wolle er mir widersprechen. »Also gut, vergessen wir die Gesetze der Höflichkeit für einen Augenblick. Aber lassen Sie uns trotzdem über das Wetter sprechen.« Er hob die Brauen. »Merkwürdig, nicht wahr? Asche, die vom Himmel fällt, ein sich bewegendes Nichts … Das finde ich alles in höchstem Maße interessant.«
»Ach ja?« Plötzlich war ich ganz Ohr. Wusste der Kanzler etwa mehr darüber, was es mit alldem auf sich hatte?
»Allerdings. Und angesichts der Häufung dieser speziellen Ereignisse habe ich mich gefragt, ob Sie mir nicht eventuell etwas mitteilen möchten.«
Mein Herzschlag setzte aus. Ahnte der Kanzler etwa, dass ich nur geblufft hatte, was den Weißen Löwen betraf? Wollte er nun die Wahrheit aus mir herausquetschen? Du meine Güte! Würden die Menschen draußen meine Schreie hören? Ich war starr vor Angst, nicht einmal fähig zu blinzeln.
»Nun?«
Ich benötigte all meine Willenskraft, um meine Zunge vom Gaumen zu lösen. Sie fühlte sich an wie ein totes Tier in meinem Mund. »Äh, be-bezüglich des Wetters?«, stammelte ich.
Der Kanzler nickte, machte jedoch weiterhin keine Anstalten, sich auf mich zu stürzen, um mich mit Gewalt zum Reden zu bringen. »Mir wurde zugetragen, dass Sie sich in der vergangenen Nacht unmittelbar im Epizentrum des Erdbebens befanden.«
»Echt?« Das hatte ich bisher nicht gewusst. Es beunruhigte mich ein wenig, wog jedoch nicht die Erleichterung darüber auf, dass der Kanzler meine Lüge wohl doch nicht durchschaut hatte. Die Angst verflüchtigte sich auf ein erträgliches Maß in der Magengegend. Übelkeit statt Schockstarre. »Das war nur ein Zufall. Ich habe mit einer Freundin einen Spaziergang gemacht, sonst nichts.«
»Verstehe«, sagte der Kanzler. Es war unmöglich zu erkennen, ob er mir glaubte. »Natürlich ist der Krawoster Grund nicht gerade ein geeigneter Ort für eine junge Dame. Und er ist noch viel weniger ein Ort, den wir uns an das Nichts zu verlieren leisten könnten. Stellen Sie sich nur vor, was geschähe, wenn wir keine Minen mehr hätten! Wir müssten andere Stellen der Stadt aufreißen, um die Dunkle Materie abzubauen! Und was sollen wir tun, wenn es keine Arbeiter mehr gäbe, weil das Nichts sie getötet hat? Wie soll diese Welt dann überleben? Ich rate Ihnen daher dringend –«
Ich reckte das Kinn. »Was raten Sie mir?«, fragte ich herausfordernd. »Wissen Sie was? Sie sind nicht weniger verdächtig als ich, Sie waren doch auch dort. Mitten im Epizentrum. War das etwa ein Zufall? Oder Ihre Schnüffeleien im Palast? Und Ihre Männer gehorchen Ihnen nicht länger, nicht wahr?«
Der Kanzler machte eine wegwerfende Geste. »Unsinn. Es gab in letzter Zeit den einen oder anderen Zwischenfall, aber der Rest meiner Leute steht geschlossen hinter mir, seien Sie gewiss.«
»Wie beruhigend«, sagte ich. »Kann ich dann jetzt –« Ein Geräusch, das irgendwo aus den dichtesten Schatten am anderen Ende der Halle zu kommen schien, ließ mich innehalten. Eine Art Brummen. Es klang merkwürdig, wie ein Lachen. Doch der Kanzler schien es nicht zu bemerken, sondern sah mich weiterhin erwartungsvoll an und so setzte ich noch einmal an: »Kann ich dann jetzt gehen?«
Der Kanzler verbeugte sich erneut. »Aber selbstverständlich«, sagte er und trat zur Seite. »Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Nacht.«
»Mhm«, machte ich noch, dann stürzte ich auch schon ins Freie, gefolgt von Sieben. Die ersten beiden
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