Nacht aus Rauch und Nebel
nicht!«
Marian blinzelte. »Allerdings ist mir nicht ganz klar, warum dich diese Tatsache so aus der Bahn wirft«, sagte er.
Meine Verwirrung bekam den Beigeschmack des Zorns. Ich spürte, wie sich meine Mimik in eine verkniffene Maske verwandelte, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. »Tja, dreimal darfst du raten«, zischte ich.
Ein Runzeln zog sich über Marians Stirn. »Weil du Ylva magst?«
Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Kaum zu fassen, wie er den Unschuldigen markierte! »Nein«, sagte ich gefährlich leise. »Weil ich gerne wüsste, was du stattdessen auf deinen Ausflügen in die Arbeitersiedlung treibst. Was ist los mit dir, Marian? Was tust du in der Schattenwelt? Ich weiß, dass du mir irgendetwas verheimlichst«, fauchte ich. »Und lüg mich bloß nicht an.«
Marian, der nun endlich verstanden hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Davon abgesehen habe ich nie behauptet, ich würde zu meiner Schwester gehen«, sagte er. »Das hast du dir alles selbst zusammengereimt.«
Damit hatte er zwar nicht ganz unrecht, aber ich zuckte dennoch mit den Achseln. »Na und? Dann kannst du mir ja wenigstens jetzt die Wahrheit sagen«, forderte ich und funkelte ihn an.
Marians Augen blitzten zurück, doch er schwieg. Natürlich!
»Marian!«, rief ich. Ein drohender Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte Ylva aus dem Wohnzimmer.
»Ja, klar«, sagte Marian. »Wir diskutieren nur über das Essen.«
Ich presste meine Kiefer mit aller Kraft aufeinander, um nicht vor lauter Wut aufzuschreien. Wieso war Marian so? Wieso konnten wir einander nicht vertrauen? In diesem Augenblick hasste ich die Schattenwelt aus tiefster Seele. Dafür, dass sie mein Leben zerstört hatte. Dafür, dass sie ein Problem nach dem anderen mit sich brachte. Und dafür, dass sie mich daran hinderte, mit dem Mann zusammen zu sein, den ich trotz allem noch immer liebte. Ich schlug mit der flachen Hand gegen die Wand, weil ich das alles so satthatte. All diese Geheimnisse! Irgendwie konnte ich sogar verstehen, dass Marian mir Dinge verschwieg, ich war schließlich auch nicht ehrlich zu ihm gewesen, als es um den Weißen Löwen ging. Sogar jetzt belog ich ihn, was das betraf. Trotzdem! Es war zum Verrücktwerden!
Ohne ein weiteres Wort schnappte ich meine Jacke und meine Handtasche und stürzte aus der Wohnung. Es dauerte mehrere Straßenzüge, bis sich meine Wut einigermaßen gelegt hatte und in Erschöpfung überging. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen und mich in meinem Zimmer einzuschließen, verwarf ihn jedoch gleich wieder. Das war mir dann doch zu armselig. Stattdessen zückte ich mein Handy und schrieb eine SMS an Wiebke, ob ich bei ihr vorbeikommen könne. Nach kaum zwei Minuten kam die Antwort: Ja, freue mich schon.
Dann bin ich gleich bei dir, antwortete ich und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Eine halbe Stunde später erreichte ich die Reihenhaussiedlung der Zwillinge.
Es war Linus, der mir die Tür öffnete. Er trug eine tief sitzende Jeans und ein Shirt mit einem wirklich ekelig aussehenden Totenkopf darauf, dessen Augäpfel an den Sehnen aus ihren Höhlen baumelten. »Hey«, sagte Linus und schob dabei einen giftgrünen Lolly in seinem Mund herum. Aus dem Wohnzimmer dröhnte so lauter Metal in den Flur, dass kein Zweifel an der Abwesenheit seiner Eltern bestand.
»Hi.« Ohne ein weiteres Wort schob ich mich an Linus vorbei ins Innere der Wohnung und klopfte an Wiebkes Zimmertür. Weil es bei dem Lärm allerdings unmöglich war zu hören, ob jemand »Herein« sagte, trat ich nach kurzem Zögern ein. Doch der Raum war leer.
»Wiebke ist bei der Nussknacker-Probe«, erklärte Linus hinter mir. »Die kommt erst in drei Stunden.«
»Aber wir waren verabredet«, sagte ich und wandte mich zu ihm um.
Linus grinste und hielt einen pinkfarbenen Gegenstand in die Höhe, den ich unschwer als Wiebkes Telefon identifizierte. »Eigentlich sind wir verabredet«, sagte er. »Sie hat es heute Morgen liegen lassen. Was soll ich denn machen, wenn es klingelt? Nicht reagieren?« Er schüttelte den Kopf. »Das wäre ja wohl superunhöflich.«
Ich seufzte, weil mir nach dem Tag heute die Kraft dazu fehlte, mich schon wieder aufzuregen. »Du liest also die Privatnachrichten deiner Schwester?«, fragte ich lahm, woraufhin Linus nur mit den Achseln zuckte. »Ich kenne auch das Passwort für ihren Facebook-Account, na
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