Nacht aus Rauch und Nebel
auf den Fersen gewesen war. Zielsicher führte er mich durch ein Labyrinth aus Hinterhöfen, bis er schließlich einer ebenfalls keuchenden Gestalt den Weg abschnitt.
Als Amadé den Heliometer vor sich erblickte, wirbelte sie in der engen Gasse herum und erstarrte, als sie mich unmittelbar hinter sich entdeckte. Die Kapuze war ihr beim Laufen heruntergerutscht und ihre Pupillen zuckten in dem trübweißen Lichtschein, in den Sieben uns hüllte. Der weite Umhang schien ihr ein paar Nummern zu groß zu sein, ihr rechter Mundwinkel zitterte.
»Hast du deinen Sohn gefunden?«, fragte ich.
Sie starrte mich an.
»Was ist passiert? Hast du deinen Kiesel verloren?« Ich streckte eine Hand aus, um sie zu berühren, doch Amadé wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen eine Häuserwand stieß. Was um alles in der Welt hatte sie dermaßen verstört? »Hör zu, vielleicht kann ich dir Fragen stellen und du nickst einfach oder schüttelst den Kopf, okay?«
Sie regte sich nicht.
»Oder ich bringe dich erst mal nach Hause. Nach Notre-Dame. Ins Warme, ja?«
»Nein!«, sagte sie und ich zuckte zusammen. Ihre Stimme klang tief und voll, ganz anders, als ich es bei ihrer zarten Gestalt vermutet hätte, und auch ganz anders als in den Erinnerungen meiner Seele.
Ich runzelte die Stirn. »Du … du sprichst wieder?« Ich dachte daran, wie Marian von Amadés Schreien gesprochen hatte. War der alte Schock durch einen neuen aufgehoben worden? »Sag mir, was passiert ist«, forderte ich. »Warum fliehst du vor mir? Lass uns doch zusammen nach Hause gehen.«
Amadé senkte die Lider. Sehr langsam schüttelte sie schließlich den Kopf. »Nein«, wiederholte sie. »Das geht nicht.«
»Wieso–«
»Bitte lass mich allein«, sagte sie heiser und schob sich an mir vorbei. »Ich muss nachdenken, okay?« Ein vertrauter Geruch von Holz und Erde stieg mir in die Nase, dann war Amadé auch schon am Ende der Gasse verschwunden. Ich gab Sieben ein Zeichen, dass wir ihr nicht mehr folgen würden. Keine Ahnung, was das alles sollte. Allerdings wusste ich nun, warum ihr der graue Mantel viel zu weit gewesen war: Es war Marians.
10
YLVA
Am nächsten Morgen duschte ich erst einmal ausgiebig.
Das half mir immer am besten dabei, mich zu beruhigen. Über eine halbe Stunde lang ließ ich mir heißes Wasser auf Kopf und Nacken plätschern. Es war Sonntag, ich hatte keine Schule und auch sonst keinen Grund zur Eile. Seelenruhig suchte ich mir ein Shirt, Jeans und meine Lieblingsstrickjacke aus dem Schrank, flocht mir die Haare zu einem Zopf und schnappte mir Jacke und Umhängetasche. Die letzte Nacht hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Was ich brauchte, war ein Spaziergang. Ruhe und frische Luft, um meine Gedanken zu sortieren. Draußen empfing mich gleißendes Sonnenlicht, das die Stuckfassaden der Häuser in unserer Straße in ihrer vollen Pracht erstrahlen ließ. Fensterscheiben funkelten über verschnörkelten Simsen und es lag eine Klarheit in der Luft, die jede Einzelheit der Verzierungen hervorhob. Genau für solches Wetter mussten die Architekten vergangener Tage Gebäude wie diese erbaut haben. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke auf. Für November war es mit einem Mal ungewöhnlich mild, fast noch ein wenig spätsommerlich. Es war ruhig, kaum mal hörte man ein Auto von der viel befahrenen Querstraße. Einzig die geplatzten Früchte des Ginkgobaums an der Ecke trübten das Idyll, indem sie das durchdringende Aroma von Hundehaufen verströmten. Ich setzte mich in Bewegung, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich wollte. Meine Schritte lenkten mich in die Steeler Fußgängerzone, wo bis auf einen Bäcker alles geschlossen hatte. Zwei ältere Damen saßen davor, tranken Kaffee und aßen Brötchen mit Mett und Zwiebeln. Ich kaufte mir ein Schokocroissant und schlenderte kauend an den Schaufenstern entlang, betrachtete die Dekoration des Buchladens und eine vereinzelte kleine Schäfchenwolke, die über meinen Kopf hinwegzog. Zur Abwechslung hatte ich heute sogar das Gefühl, einmal nicht verfolgt zu werden, weder von einer mysteriösen Schattengestalt noch von den Schergen des Kanzlers.
Dieser ominöse Desiderius, meine einzige Spur zur Prophezeiung bisher, war also vermutlich längst tot. Das Nichts bewegte sich noch immer aus unerklärlichen Gründen, der Kanzler hatte mir Angst eingejagt und entschieden zu gute Laune gehabt. Amadé fürchtete sich plötzlich vor mir und lief in Marians Mantel herum. Das alles brachte mich kein
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