Nacht aus Rauch und Nebel
sehr … gut. Manchmal vielleicht auch ein bisschen mittelmäßig … aber … sonst«, druckste ich herum. Mann, war das peinlich! »Entschuldige. Normalerweise kann ich auch in ganzen Sätzen sprechen«, fügte ich deshalb schnell hinzu.
Ylva lachte, rutschte im Schneidersitz näher an den Koffer heran und hockte schließlich auf ihren untergeschlagenen Fersen. Mit ausgestrecktem Arm angelte sie etwas aus den Tiefen eines der Seitenfächer hervor. Mein Gehirn weigerte sich, dieses zierliche Mädchen mit dem Monster, das Amadé und mich angegriffen hatte, in Einklang zu bringen.
»Jedenfalls habe ich ihm das hier mitgebracht. Glaubst du, er freut sich?« Sie hielt einen daumengroßen Bären aus Gummi in die Luft. Er trug mittelalterliche Kleidung und machte ein mürrisches Gesicht. Dazu sang sie auf Finnisch.
»Äh«, machte ich. Die Melodie kam mir bekannt vor, genauso wie die Figur. Doch es dauerte einen Augenblick, bis ich das Ding als den griesgrämigen Graffy aus der Gummibärenbande erkannte, einer Zeichentrickserie, die ich als Kind häufig geschaut hatte. »Passen tut der Kleine zu ihm. Allerdings weiß ich nicht, ob Marian so ein Hardcore-Fan ist«, gab ich zu bedenken und begann, mich ein bisschen zu entspannen. Meine Mundwinkel zuckten, als Ylva mich mit einem verschwörerischen Zwinkern bedachte.
»Vertrau mir«, sagte sie und sprang auf.
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie bereits wieder den finnischen Gummibären-Song anstimmte.
Marian, der die Nudeln längst aufgesetzt und es sich inzwischen mit einer Zeitschrift auf der Couch bequem gemacht hatte, runzelte die Stirn und ließ seine Eishockeynews sinken.
»Hier, der hat mich an dich erinnert. Weißt du noch?«, sagte sie und fügte etwas auf Finnisch hinzu. Anscheinend eine Anekdote aus ihrer Kindheit. Jedenfalls zauberte sie für einen winzigen Augenblick so etwas wie ein Strahlen auf Marians Züge. Er wirkte damit seltsam fremd. So fröhlich hatte ich ihn seit Wochen nicht mehr gesehen.
Seine Augen glänzten, als er die Gummifigur vorsichtig in den Händen drehte und von allen Seiten betrachtete. »Danke«, sagte er und umarmte seine Schwester so lang und so fest, dass ich am liebsten den Raum verlassen hätte, um den intimen Augenblick nicht zu stören.
Tatsächlich hatte ich mich schon rückwärts ein paar unauffällige Schritte in Richtung Tür geschoben, da wandte sich Ylva über Marians Schulter hinweg so unvermittelt an mich, dass ich zusammenfuhr. »Siehst du«, sagte sie. »Ich kenne meinen Bruder doch noch. Auch wenn ich ihn seit Monaten nicht gesehen habe, weil der Herr sich weder in der Schattenwelt noch in dieser bei mir hat blicken lassen.« Sie zwickte Marian ins Ohr. »Aber ein Anruf pro Woche reicht nicht, mein Lieber. Da brauchst du dich nicht zu wundern, wenn ich mich in ein Flugzeug setze und bei dir aufkreuze.« Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Mal sehen, wo wir den Kleinen hinstellen können«, verkündete sie, schnappte sich den Gummibären und inspizierte Marians chaotischen Schreibtisch, während ihr Bruder die Nudeln abschüttete.
Keiner von beiden bekam mit, wie mir der Mund auf- und wieder zuklappte. Hatte ich das gerade richtig gehört? Marian war seit Monaten nicht mehr bei seiner Schwester gewesen? Nicht einmal in der Schattenwelt, wo er die Bergwerke sogar zu Fuß erreichen konnte? Das war nicht nur traurig, es war … beunruhigend. In meinem Kopf wirbelten schwarz-weiße Gedankenfetzen durcheinander. Mein Mund wurde trocken, die Wohnung um mich herum begann, sich zu drehen. Wenn Marian nicht Nacht für Nacht im Krawoster Grund verschwand, um Ylva zu besuchen, welche Erklärung gab es dann für seine zahlreichen Ausflüge?
»Flora? Käsesoße?«, fragte mich Marian.
Ich schüttelte den Kopf und taumelte gegen den Türrahmen. Marian ließ die Kelle sinken. Einen Atemzug später war er bei mir. »Was ist mit dir? Du bist ja ganz blass.«
Mein Blick schnellte zu Ylva hinüber, die gerade die Papiere in einem der Regalfächer des Schreibtisches umschichtete, um Platz für die Figur zu schaffen. Dann krallte sich meine Hand in Marians Pullover. Ich zog ihn stolpernd mit mir in die Diele.
»Flora?«
Ich schnaubte. »Stimmt es, was Ylva gesagt hat? Dass du sie schon länger nicht mehr in den Minen besucht hast?«
Er senkte die Lider. »Ja, es ist wahr. Seit der Sache mit dem … Stein habe ich es nicht mehr über mich gebracht. Das war blöd, ich weiß.«
Ich sog scharf die Luft ein. »Ich fasse es
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