Nacht aus Rauch und Nebel
hier nicht weitergehen mit uns.« Ich krallte meine Hände um seine Oberarme.
Endlich nickte Marian langsam. »Die Wahrheit«, sagte er. »Na gut, ich verrate sie dir. Die erste Wahrheit ist, dass ich heute Nacht eingepennt bin, mitten in meiner Schicht bei den Zwillingen. Und jetzt sitze ich hier fest, weil mein Körper zu erschöpft ist und einfach nicht wieder aufwachen will.«
Meine Augen weiteten sich. »Heißt das, du hast die beiden schutzlos zurückgelassen? Obwohl der Kanzler zuletzt –«
Marian schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab. »Es war keine Absicht«, sagte er. »Aber ich bin nicht fertig mit der Wahrheit: Ich war nicht im Krawoster Grund, um meine Schwester zu besuchen, das hast du ja schon herausgefunden. Aber willst du wissen, was ich stattdessen dort getan habe?«
Ich nickte wütend.
»Es existiert ein Haus. Eine Baracke, kaum größer als die, in denen wir die Schlafenden hausen lassen. In diesem Haus bin ich aufgewachsen. Meine Eltern haben dort mit meiner Schwester und mir gewohnt, wenn wir in der Schattenwelt waren. Aus Prinzip, weil sie es ungerecht fanden, wie die Wandernden mit den Schlafenden umgehen. Nach ihrem Tod habe ich viele Jahre keinen Fuß mehr über die Schwelle gesetzt. Schon allein der Gedanke …« Er schloss für einen Augenblick die Lider. »Doch vor einigen Wochen bin ich doch zurückgekehrt. Meine Eltern waren Wissenschaftler, wie du weißt, und ich erinnerte mich dunkel an ihre Aufzeichnungen, die sie über Eisenheim und das Nichts angefertigt hatten. Irgendwo musste noch dieser Fetzen Pergament sein, auf dem ein Teil der Prophezeiung stand. Meine Eltern haben das Ding gehütet wie einen Schatz.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, flüsterte ich. Wieso hatte er mir verheimlicht, was er über die Prophezeiung wusste?
Marian atmete aus. »Tja, hier kommt die nächste Wahrheit: Wenn man sich den Wortlaut ansieht, dann scheint die Weissagung des Desiderius nichts Gutes für dich zu bedeuten. Es klingt so, als wärst du dafür verantwortlich, dass das Nichts nach und nach ganz Eisenheim und seine Bewohner verschlingen wird. Und es ist schon auffällig, dass der Ascheregen und all das über uns hereinbricht, kurz nachdem du den Weißen Löwen, der ja wohl der Stern ist, für immer verloren hast.«
»Willst du damit etwa sagen, ich –«, rief ich.
»Nein«, sagte Marian. »Ich liebe dich, Flora. Und ich sehe doch, wie schlecht es dir geht. Außerdem fehlt noch ein Teil der Prophezeiung und wir sollten warten, bis wir ihn finden, bevor wir entscheiden, wie es weitergeht. Aber mir war klar, dass wenige Leute diese Meinung teilen würden, sollte der verschollene Text bekannt werden. Das war mir klar, als ich Amadé vor meiner Tür fand. Sie war total verstört vor Angst um ihren Sohn und ich habe sie für ein paar Nächte aufgenommen. Als sie den Vers entdeckte, hat sie nicht gezögert, sich von dir abzuwenden. Deshalb habe ich niemandem etwas darüber gesagt und Amadé beschworen, den Mund zu halten.«
Ich dachte daran, wie ich Amadé am Ufer des Hades getroffen hatte, eingehüllt in Marians Mantel und plötzlich so abweisend. Doch noch immer begriff ich nicht, warum Marian mich nicht eingeweiht hatte. »Aber mir hättest du es doch sagen können. Ich muss doch wissen, woran ich bin. Was, wenn ich tatsächlich Schuld trage? Was, wenn ich unbewusst etwas falsch gemacht habe? Oder bewusst?« Plötzlich hatte ich jene Nacht, in der ich den Weißen Löwen verborgen und alle über mein Gedächtnis belogen hatte, wieder glasklar vor Augen.
Marian nahm meine Hand und legte seine Fingerspitzen an meine. »Ich wollte dich schützen«, flüsterte er. »Ich wollte nicht, dass du dir die Dinge zu sehr zu Herzen nimmst. Du kannst schließlich nicht mehr ändern, was du getan hast. Ich wollte nicht, dass du morgens nicht in den Spiegel sehen kannst vor lauter Gewissensbissen. Nicht so wie ich.«
Ich wollte protestieren, weil es schließlich nicht Marian gewesen war, der seine Schwester krank gemacht hatte. Er hatte sogar alles in seiner Macht Stehende getan, um ihr zu helfen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen konnte, war, dass er gescheitert war. Und so etwas passierte schließlich den Besten.
Doch Marian ließ meinen Einwänden überhaupt keine Chance. »Es gibt noch mehr Wahrheiten, Flora«, sagte er. »Ich habe in meinem Elternhaus nicht nur die Prophezeiung gefunden, sondern auch nach ihrem Nachlass gestöbert. Nach und nach habe ich alte Pläne gefunden
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