Nacht der Dämonen
müsse sich übergeben. Die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis brannte wie Feuer in ihr, doch plötzlich erfüllte sie eine seltsame Gelassenheit. Ihr Schmerz und Leid und ihre Ängste schienen nachzulassen, als sie sich gemahnte, dass sie die Stadt verlassen würde, um sich zum Tal des Nichts zu begeben.
Empfangt mich, dachte Tiamu, und macht mit mir, was ihr wollt, denn ich bin nur, was ich bin, und ihr seid, was ihr seid. Läutert mich, zerstört mich ganz, damit ich wiederauferstehe in einer fernen Zukunft – ohne Erinnerung, was vorherging!
Diese Worte gehörten zu dem Gebet an das Erdvolk, das in der Opfernacht laut von allen gesprochen wurde, wenn die Opfer in goldenen Ketten an die Pflöcke gehängt wurden, damit das Erdvolk kommen und sie verschlingen möge, um besänftigt zu werden, damit so das Böse des Mondscheins gebannt würde, dieses rätselhafte Übel, das Elkad bedrohte. Doch das Ende, das ihrer statt dessen harrte, hatte sie allein sich selbst zuzuschreiben.
Tiamu beeilte sich, ein paar Kleinigkeiten zusammenzupacken, dann stahl sie sich an den Kammern der anderen Tempelmädchen vorbei und durch den Palast ins Freie. In der feuchten Kälte des frühen Morgens hielt sie sich in den Schatten der Häuserwände, um unbemerkt aus der Stadt zu gelangen und ihr Schicksal zu erfüllen.
Im Norden war Lärm zu hören, im Süden läuteten Glocken und dröhnten Gongs wie jeden Morgen. Tiamu achtete weder auf das eine noch das andere, sie dachte nur daran, das Tal des Nichts und den Frieden des Todes zu erreichen.
»Wer seid Ihr?« fragte Sonja.
Der Mann ihr gegenüber war groß und hager. Er hatte eine wilde Mähne grauen Haares und einen zerzausten grauen Bart, doch wirkte er weder alt noch schwach. Die zähe Kraft seines Körpers war selbst durch den lose hängenden, grobgewebten Kittel und den Umhang zu erkennen, und seine aufrechte Haltung verriet einen Stolz, wie Sonja ihn bei keinem in der Stadt bemerkt hatte – ja überhaupt selten bisher.
Ein starker Mann war dieser ungewöhnliche Fremde, aber kein schlechter Mensch, das spürte sie. Trotz der Entfernung las sie es in seinen Augen.
Waffenlos stand er ihr gegenüber, außer man wollte seinen langen knorrigen Stab Waffe nennen. Als sie sah, dass er unbewaffnet war, schämte Sonja sich flüchtig der blanken Klinge in der Hand.
Bis ihr der Gedanke kam, dass dieser Graubart in grober Wolle und Leder ein Zauberer sein könnte, der keine Waffen benötigte.
»Wer seid Ihr?« fragte sie erneut und etwas scharf ob dieses letzten Gedankens.
Der Mann trat ein paar Schritte näher und bedeutete Sonja ruhig, ihr Schwert einzustecken – was sie jedoch nicht tat.
»Dort unten«, sagte er in stolzem Bass, »kennen sie mich als den Gott Zarutha. Doch wissen sie nicht, wovon sie sprechen, denn Zarutha war mein Lehrer, der vor mir hier hauste – ein Mensch, so sterblich wie ich. Ihr dürft mich Saureb nennen, das ist der Name, den ich seit meiner Geburt trage.«
Saureb? Sonja kannte die Bedeutung dieses Wortes. Es war die Kurzbezeichnung für das Zamorianische »Weisheit steht allein«.
»War es lediglich Zufall, dass Ihr so genannt wurdet?« fragte sie.
»Wer weiß? Mit Weisheit kommt Demut, deshalb möchte ich keine Behauptung aufstellen. Ich frage nur, erhalte Antworten und stelle weitere Fragen.«
Sonja war belustigt. »Und ich nannte Euch meinen Namen.«
»Sonja«, murmelte Saureb. »Ein anderer Name für Weisheit.«
»Stimmt, Saureb – doch Weisheit anderer Art, wette ich.«
Möglicherweise lächelte er unter seinem Bart, doch er sagte nur: »Kommt. Steigen wir ein Stück höher zu meiner Behausung. O ja, ich lebe in diesen Bergen, denn ich will nichts mit diesen Menschen unten im Tal zu tun haben, noch mit einer Gemeinschaft anderswo.«
»Und doch heißt Ihr mich willkommen?«
»Euch willkommen heißen? Ihr seid wie ich ein Fremder auf dieser Welt, ein Wahrer Geist und anders als andere – das spüre ich. Ihr seid allein, Rote Sonja. Fühlt Euch hier nicht bedroht – ich würde Euch nur etwas tun, wenn Ihr, außer zur Selbstverteidigung, Gewalt anwendetet. Doch glaube ich, dass ich Euch richtig erkenne. Also, steckt Euer Schwert ein und kommt mit mir. Ich habe Futter für Euer Pferd, und für Euch Suppe und Gemüse und selbstgemachten Käse.«
Instinktiv vertraute Sonja Saureb und sie war auch neugierig, was ihn betraf. Sie schob die Klinge in die Scheide zurück und griff nach dem Zügel ihres Rosses.
Keldums Soldaten
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