Nacht der gefangenen Träume
es.
»Na?«, sagte der starke Georg und setzte sich zu Frederic auf die Bank.
»Na?«, sagte Frederic.
»Was hast du geschrieben, über den Panther?«
Frederic verschwieg das Blabla. »Na, dass er für die Freiheit steht, die man verloren hat, und so weiter«, sagte er. »Dass man ausbrechen soll und so. Aus dem Selbst – aus dem – ach, was weiß ich.«
Er betrachtete die Wunde. Sie brannte. Nicht schlimm, nur ganz leicht, als wollte sie nicht, dass er sie vergaß.
»Dass man ausbrechen soll?«, fragte der starke Georg und zog seine starken Augenbrauen in die Höhe. »Aber der Panther ist doch glücklich, oder? Ich habe geschrieben, er ist erleichtert, weil es in seinem Käfig keine Gefahren gibt und er gefüttert wird und …«
Frederic schüttelte den Kopf. »Da hast du was falsch verstanden«, meinte er und besah sich die Arme des starken Georgs, die aus beeindruckenden Muskelpaketen bestanden. Vielleicht hätte er ihm nicht widersprechen sollen. Vielleicht würde der starke Georg böse werden, und es lohnte sich nicht, für ein dummes altes Gedicht ein blaues Auge einzukassieren. Aber der starke Georg wurde nicht böse.
»Meinst du?«, fragte er unsicher. »Das wäre aber nicht gut, dann kriege ich eine ganz schlechte Note.«
Komisch. Wenn Frederic den starken Georg auf der Straße getroffen hätte, ohne ihn zu kennen – er hätte bestimmt geglaubt, Georg würde jedem fürs Widersprechen die Nase platt bügeln. Und seine Noten wären ihm dabei so egal wie Frederics Nasenbein. Doch stattdessen stand der starke Georg auf und fragte seinen Freund Manuel.
»Klar ist der Panther glücklich«, sagte Manuel. »Er hat doch keine Probleme, oder?«
Der Panther nicht, dachte Frederic. Nur offenbar die Leute aus seiner Klasse. Was fanden sie an HD Bruhns? Kein Mensch auf Frederics alter Schule hätte ihn auch nur eines Blickes gewürdigt. Er war genau die Art von Lehrer, die grundsätzlich gegen eine Wand anredete.
»Josephine«, fragte Georg, beinahe weinerlich, »ist der Panther zufrieden in seinem Käfig? Frederic sagt Nein.«
Josephine löste sich aus einer Masse von schnatternden Siebtklässlern und strich sich die aalglatten blonden Haare zurück, die genau parallel zueinander ausgerichtet waren. (Kämmte sie sich mit einem Magneten?) Sie sah Georg von oben herab an und schenkte ihm ein gut geübtes grauäugiges Lächeln, kalt wie ein Gefrierfach.
»Er ist ganz und gar zufrieden«, antwortete sie mit einem Schnurren in der Stimme, als wäre sie selbst der zufriedene Panther. »Frederic irrt sich. Wir haben es alle so geschrieben. Der Panther steht für … faselfaselfasel …«
Aufgeblasenes Miststück, dachte Frederic. Man sollte eine Art Nadel erfinden, die man in Josephine hineinpiken konnte, damit die heiße Luft aus ihr entwich. Er sah direkt vor sich, wie sie in sich zusammenschnurrte und klein, runzlig und hässlich wurde … Aber noch niemand hatte diese Nadel erfunden, und so warf Josephine mit ihrem kalten Blick nach Frederic, ehe sich der Kreis der Mädchen und Jungen wieder um sie schloss.
Da räusperte sich jemand neben ihm. Auf der anderen Seite der Bank saß jetzt eine geduckte Gestalt – ganz an der Ecke. Es war Änna.
»Ich habe es gesehen«, sagte sie, so leise, dass er sie kaum hörte.
»Was – gesehen?«, fragte Frederic.
Änna zeigte auf sein rechtes Handgelenk.
»Wie es mich gebissen hat?«
»Nicht es «, flüsterte Änna. »Sie.«
»Du meinst – Josephine?«, fragte Frederic. »Aber wieso? Und vor allem: Wie? Ihr Kopf war gar nicht in der Nähe meiner Hand. Und wie kommt es, dass die Zahnspuren so winzig sind?«
Änna öffnete den Mund, um zu antworten. Doch in genau diesem Moment klingelte die Schulglocke und Frederic hörte nicht, was Änna sagte. Einige Sekunden später war sie bereits mit den anderen auf dem Weg zurück nach drinnen – hastig, als hätte sie Angst vor sich selbst bekommen. Sie wirkte immer etwas ungeschickt, vor allem wenn sie sich beeilte. Man konnte nicht wirklich behaupten, dass sie humpelte, aber sie hob die Füße kaum vom Boden.
An diesem Tag holte Frederic nach der sechsten Stunde Hendrik ab. Hendrik war sein Vater, und er holte ihn im Sekretariat von HD Bruhns ab, was daran lag, dass Frederics Vater die Computer des Sekretariats ab und zu instand setzte. Was wiederum der Grund dafür war, dass Frederic vor sechs Wochen nach St. Isaac gewechselt hatte. Hendrik zahlte nur ein Drittel des Schulgeldes. Die ganze Summe hätten
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