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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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an dem Tisch vorbeikam, an dem Änna gerade malte, blieb er stehen. Sie saß neben Josephine. Auch die Lehrer auf den Bildern der beiden sahen eisig und reglos durch den Betrachter hindurch.
    »Wieso warst du gestern bei Herrn Direktor Bruhns?«, fragte Josephine Änna. Sie hatte Frederic nicht bemerkt.
    »Es war wegen Sport«, antwortete Änna und starrte auf ihr langweiliges Bild hinab. »Weil ich Sport nicht kann.«
    »Du meinst: weil du Sport nicht magst.«
    »Das hat nichts mit mögen zu tun.« Frederic hörte, wie sich Ännas Stimme wand. »Ich kann es wirklich nicht. Nichts. Es ist alles so … schwierig. Zum Beispiel, das Gleichgewicht zu halten, auf dem Schwebebalken. Ich habe Angst, dass ich wieder runterfalle. Es ist, als wäre ich auf der rechten Seite schwerer.«
    »Quatsch«, sagte Josephine kalt. »Du musst dich nur anstrengen. Es ist allein deine Idee, dass du es nicht kannst. Du weigerst dich.«
    »Das ist nicht wahr!« Änna suchte nach Worten. »Es – es ist keine Idee von mir.«
    Josephine sah sie an. »Keine Idee? Ich wette, doch. Ich wette, du hast sie.«
    »Was?«
    »Ideen.«
    Sie sagte es mit dem gleichen Abscheu, mit dem andere Leute »Schildläuse« oder »die Pest« gesagt hätten.
    »Mein Bild ist fertig«, murmelte Änna und stand auf. Als sie Frederic sah, schenkte sie ihm ein Lächeln, aber es war ein trauriges Lächeln. Er mochte dieses Lächeln nicht. Er folgte ihr zu dem großen Tisch, auf dem schon andere Bilder zum Trocknen ausgelegt waren. Änna hatte einen Pinsel mitgenommen und stand eine Weile unschlüssig vor ihrem Bild. Und dann, als Josephine es nicht sehen konnte, malte sie ganz schnell noch etwas darauf.
    Frederic legte sein Bild neben ihres. Es dauerte, bis er entdeckte, was Änna hinzugefügt hatte. Schließlich fand er es und grinste. Sie war schlau. Niemand würde es sehen. Niemand, der nicht danach suchte. Es war etwas an Kahlhorst. Über seine Schultern, fast verdeckt von der Frisur der Ziesel, lugten die Spitzen von zwei gelb gefiederten Flügeln. Es wirkte lächerlich – der dicke Kahlhorst mit Flügeln. Aber sie waren da. Nur: Jemand hatte die Federn gestutzt.
    Er hätte, dachte Frederic später, mit Änna reden sollen. Er hätte sie fragen sollen. Doch er kannte sie nicht. Und sie war ein Mädchen. Mit den meisten Mädchen konnte man nicht reden.
    Frederic saß den ganzen restlichen Tag in der Küche an dem wackeligen Tisch, den Hendrik vor kurzem blau gestrichen hatte, damit wenigstens die Farbe ihn zusammenhielt. Er machte keine Hausaufgaben. Er vergaß den Abwasch. Er ging nicht ans Telefon, als es klingelte. Er verjagte die Spinne nicht, die zwischen den Kräutertöpfen auf der Fensterbank ihr Netz webte. Er machte die Tür nicht auf, als es klopfte und Lisa rief, sie wolle etwas Salz leihen.
    Stattdessen saß er stundenlang auf dem gleichen Stuhl und starrte das Fläschchen der alten Dame an. Es stand auf dem blauen Tisch und fing das Nachmittagslicht ein. Sein Inhalt leuchtete wie Goldstaub, dann, als es später wurde, wie flüssige Bronze, und viel später, in der Abenddämmerung, wie rotes Blut.
    Irgendwann kam Hendrik nach Hause, der heute anderswo Computer repariert hatte. Frederic steckte das Fläschchen in die Tasche und sie aßen schweigend Käsebrote zu Abend. Doch nachdem Hendrik zu Bett gegangen war, schlich Frederic zurück in die Küche, wo die Regale jetzt lange Straßenlaternen-schatten warfen, und stellte das Fläschchen wieder auf den Tisch. Er starrte es weitere vierundfünfzig Minuten lang an.
    Endlich seufzte er, nahm ein Stück Würfelzucker und legte es auf einen Teelöffel. Sein Herz pumpte wilde Aufregung durch jede Ader. Der Schraubverschluss der kleinen Flasche ließ sich ganz leicht lösen. Frederics Hand zitterte, als er sie umdrehte und zu zählen begann: Eins. Zwei. Drei. Vier. Die Tropfen hingen zähflüssig am Rand der Flasche – es war, als zögerten sie, sich auf den Zucker fallen zu lassen. Sieben, acht, neun, zehn … Der Zucker verfärbte sich orange. Frederic biss auf seine Unterlippe … Neunzehn. Zwanzig. Die Flasche war halb leer. Er legte den Teelöffel vorsichtig auf einer Untertasse ab, verschloss das Fläschchen sorgfältig und stellte es ganz hinten in den Schrank. Erst danach nahm er den Löffel, führte ihn in den Mund, schloss die Augen und – schluckte den orangefarbenen Zucker auf einmal hinunter.
    Er schmeckte bitter. Überhaupt nicht nach Karotten. Frederic öffnete die Augen. Nichts. Die Küche

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