Nacht der gefangenen Träume
Körper – ständig beschäftigt damit, die Mahlzeiten aller vergangenen Leben zu verdauen – war umfangreich und freundlich. HD Bruhns machte sich gerne über Kahlhorst lustig, und das war ein weiterer Grund, den Biolehrer zu mögen. Frederic passte Kahlhorsts Bauch in der Pausenhalle ab, in der Schlange vor dem hausmeisterlichen Brötchenverkauf.
»Vitamin A?«, wiederholte Kahlhorst. »Ist gut für die Augen.«
»Ist es gefährlich?«, fragte Frederic. »Giftig oder so? Wenn man zu viel davon nimmt?«
»Es ist in Karotten«, sagte Kahlhorst und strich sich nachdenklich über seinen glatten Schädel. »Und nur in Riesenmengen schädlich. Du kannst nie im Leben so viele Karotten essen, dass du zu viel Vitamin A zu dir nimmst. Das wäre ein ganzes Feld voll! Das schaffe nicht einmal ich. Was hast du vor?«
Frederic sah, dass Josephine hinter Kahlhorst in der Schlange stand. Bisher hatte Kahlhorsts Bauch sie verdeckt, aber nun war sie einen Schritt zur Seite getreten, um besser hören zu können.
»Ach, ich habe da bloß so eine Idee …«, murmelte Frederic.
»Du hast eine Menge davon, was?«, fragte Josephine spitz. »Ideen, meine ich.«
»Und?«, fragte Frederic zurück. »Soll ich dir welche abgeben?«
»Ideen sind nicht immer unbedingt etwas Gutes«, flüsterte sie. Dann verschmälerten sich ihre kalten grauen Augen zu Briefkastenschlitzen und sie schickte eine lautlose Botschaft hindurch: Vorsicht.
»Vor was?«, fragte Frederic laut, doch Josephine hatte offenbar etwas unglaublich Interessantes auf dem geschrubbten Marmorboden entdeckt und beachtete Frederic nicht weiter. Als er ein vermutlich versteinertes Wurstbrötchen ergattert hatte, drehte Frederic sich noch einmal nach ihr um. Doch sie stand nicht mehr in der Schlange. Er sah sie am anderen Ende der Pausenhalle mit HD Bruhns reden. Und als sie glaubte, er sähe es nicht, blickte sie zu ihm hinüber. Bruhns nickte und sagte etwas zu ihr, ganz leise – etwas, das keiner außer den beiden hören sollte. Etwas über Frederic.
Er merkte wieder, wie er fror. Das versteinerte Brötchen verfütterte er im Hof an die Tauben, die im Abrisshaus wohnten und nur manchmal herüberkamen. Er hatte keinen Hunger mehr.
Kunst gab auch Kahlhorst.
»Ich habe da so eine Idee«, sagte er in der nächsten Stunde und blinzelte Frederic zu. »Wir malen heute Karotten.«
Frederic seufzte. »Ideen sind nicht immer unbedingt etwas Gutes«, sagte er.
Kahlhorst hob eine Augenbraue. »Das war ein Satz, den ich von dir nicht erwartet hätte«, sagte er. Er sah besorgt aus. »Schläfst du in letzter Zeit schlecht?«
»Wie bitte? Nein. Doch. Aber der Spruch ist nicht von mir. Er ist von Josephine. Erinnern Sie sich nicht?«
Auf einmal war da Kahlhorsts stoppelbärtiges Gesicht ganz nah an seinem.
»Pass auf dich auf«, flüsterte Kahlhorst. Dann trat er einen Schritt zurück und verkündete laut irgendetwas über Karotten. Doch Frederic hörte nicht mehr zu. Pass auf dich auf?
Verwundert zog er sich an einen der Tische zurück und schnappte sich ein Blatt. In der Mitte des Tisches lagen drei Karotten. Vorn an der Tafel hing ein großes Foto vom Lehrerkollegium. Das Licht, das auf dem Foto durch die Blätter der Kastanie fiel, warf die Schatten der Lehrer auf den Hof. Kam es Frederic nur so vor, als wäre Bruhns’ Schatten ein wenig zu dunkel geraten?
»Was genau sollen wir malen?«, flüsterte er dem starken Georg zu.
»Die Lehrer, die einen Berg Riesenkarotten erklimmen«, flüsterte Georg zurück. »Hast du nicht zugehört?«
»Er hört nie zu«, bemerkte Josephine, die mit einem frisch gefüllten Wasserglas an ihnen vorbeischritt.
Frederic kaute auf seiner Unterlippe herum. Dann zeichnete er Sport-Fyscher, der mit einem Pinsel als Balancierstab eine Karotte hinauflief. Und Kahlhorst, der in eine der Karotten hineinbiss. Und die Ziesel, die Mathelehrerin, die Wurzelrechnungen auf die Karotten schrieb. Claudius, den langweiligen Lateinlehrer, malte er ganz in Grau, und Frau Meier-Travlinski, die Erdkunde gab, mit einer Karte, auf der sie den Karottenberg einzeichnete. Ganz oben auf die Spitze stellte er HD Bruhns, der dort seinen Schlips als Fahne hisste.
Als er fertig war, nahm er das Bild, um es zum Trocknen wegzubringen.
Auf dem Weg sah er nach, was die anderen malten. Sie pinselten alle dasselbe: unten die Karotten und oben, in einer geraden Linie, die Lehrer. Genauso aufgestellt wie auf dem Foto. Kein Einziger bewegte sich aus der Reihe.
Als Frederic
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