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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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entgegen.
    »Da!«, blaffte sie und drückte ihm ein kleines Fläschchen in die Hand. »Nimm!«
    Vermutlich war sie verrückt.
    »Was ist das?«, fragte Frederic vorsichtig.
    Wenn sie jetzt »Krötenblut« oder »Fledermausextrakt« sagte, würde er höflich lächeln und gehen. Vielleicht würde sie auch »Briefmarkencreme« sagen oder »Strickschokolade« … irgendetwas Unsinniges.
    »Vitamin A«, sagte die alte Dame.
    Frederic blinzelte. »Vitamin A?«
    »Sicher. Hoch konzentriert. Gut für die Augen. Wenn du etwas verändern willst, musst du sehen. Die Wahrheit sehen. Einen Teelöffel. Zwanzig Tropfen. Am besten auf einem Stück Würfelzucker. Und kein Johanniskraut! Johanniskraut ist ein natürliches Antidot. Interagiert. In der Leber. Enzyme. CYP 450.«
    Damit lächelte sie höflich und ging.
    Frederic stand im halbdunklen Kellergang und starrte das Fläschchen in seiner Hand an. Er hatte kein Wort verstanden. Antidot? Interagiert? War die alte Dame etwa verwandt mit HD Bruhns, der Fremdwörter so liebte?
    Er vergaß das Glas Gurken.
    Später, als er im Bett lag, drehte er die kleine Flasche zwischen den Fingern. Ihre Wand war kühl und glatt. Vor dem Fenster atmete lautlos die Nacht. Sie war voller Ahnungen, und die Sterne, die Frederic von seinem Bett aus sah, schienen zu zittern: erwartungsvoll. Ängstlich.
    Wenn du etwas verändern willst, musst du sehen. Die Wahrheit sehen  …
    Hatte Frederic selbst nicht genau dasselbe gedacht, heute Mittag, auf dem Flur in St. Isaac? Erst viel, viel später fiel ihm ein, dass er die alte Dame nicht gefragt hatte, wieso sie mit der Hand in die Falle geraten war. Eine Falle, die er für Ratten erfunden hatte. Und nicht für alte Damen.

2. Kapitel
    Es wird wieder Zeit
    »Du hast die Geschichte noch gar nicht angefangen«, sagt Frederic. »Das war ein Bluff. Sie fängt erst jetzt an.«
    »Ansichtssache«, sage ich.
    »Jetzt kommt das mit dem Krankenwagen, oder?«
    »Mm.«
    »Sag mal, hatten die eigentlich Sirenen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich wäre gerne mal mit Sirenen irgendwo mitgefahren.«
    »Sie haben dich doch gar nicht mitgenommen.«
    »Nein. Hendrik hat mich mitgenommen. Aber darum geht es nicht. Es geht um scharfe Zähne und die Eisenkugel und eine schlecht verheilende Wunde. Schreib weiter.«
    »Gut«, sage ich.

    Am Dienstagmorgen wachte Frederic auf und dachte:
    Vitamin A.
    Das Fläschchen stand auf dem Koffer neben Frederics Bett, den er als Nachttisch benutzte. In dem Koffer befanden sich alle Kleinteile und Werkzeuge, die er brauchte, um Maschinen zu erfinden; Metallfedern und Alleskleber und Elektroden und Lüsterklemmen und Schraubenzieher und Nägel und ausgebaute Schalter und Klingeldraht – und ein kleines bisschen Schwarzpulver. Die größeren Bauteile verteilten sich auf die Kellerregale, die sich mit den Da-Vinci-Plakaten um die besten Plätze an der Wand stritten.
    Frederic schlief ruhiger, wenn er von seinem Werkzeug umgeben war. Sonst. In dieser Nacht hatte er nicht ruhig geschlafen. Er hatte von Vitamin A geträumt.
    Natürlich schluckt niemand, der in der siebten Klasse und bei Verstand ist, einfach irgendetwas, das er von einer fremden (und vielleicht verrückten) Person bekommen hat. Beim Frühstück fragte Frederic seinen Vater danach.
    »Vitamin A?«, brummte Hendrik und hob den Blick verwundert aus der großen gelben Kaffeetasse. Auf der Tasse prangte ein grünes A. An diesem Morgen erschien es Frederic, als wäre es extra dort, wegen des Vitamins. Aber er hatte es selbst gemalt, vor langer Zeit, als er noch gar nicht hatte schreiben können. Mit Hendriks Hilfe. Es war Annas Tasse gewesen. Quer durch das A lief ein Sprung.
    »Von Vitaminen hab ich keine Ahnung«, sagte Hendrik. »Gibt’s nicht bei Computern.«
    Als Frederic das Haus verließ, saß Lisa im offenen Fenster und kämmte ihre roten Haare.
    »Guten Morgen«, sagte Frederic. »Kennen Sie sich aus mit Vitamin A?«
    »Ich dachte, wir duzen uns«, sagte Lisa. »Wir kennen uns doch seit gestern. Vitamin A kenne ich nicht. Nicht persönlich. Ich sieze es.«
    »Haha«, sagte Frederic lahm. »Ich meine es ernst.«
    »Ich auch«, antwortete Lisa. »Tut mir leid. Frag euren Biolehrer.«
    Das tat Frederic, denn der Biologielehrer gehörte zu den wenigen, die er mochte. Er hieß Kahlhorst und sah auch so aus. In St. Isaac war er dafür bekannt, dass er unaufhörlich aß, so als glaubte er an ein oder mehrere frühere Leben und hätte von ihnen allen noch etwas Hunger übrig. Sein

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