Nacht der gefangenen Träume
säuberlich gefeilten, hellrosa lackierten Nägeln, prangte ein winziges Maul voller scharfer Zähne – lauter Miniaturausgaben jenes großen Mauls von HD Bruhns. Woher hatte Änna es gewusst? Frederic betrachtete den Schorf auf seiner rechten Hand.
Nein, er war nicht krank. In dem Fläschchen war keine Droge gewesen. Josephines Finger-Zähne waren genauso real wie seine Wunde. Er sah die fünf kleinen bissigen Mäuler wieder auf sich zukommen. Vielleicht streckte Josephine nur die Hand nach ihrer eigenen Klassenarbeit aus und wollte ihn gar nicht noch einmal beißen. Aber Frederic stand auf, versuchte es jedenfalls, spürte, wie sich wieder alles um ihn drehte, und merkte, dass er in Richtung Boden fiel. Kurz darauf war es dunkel um ihn. Er vernahm besorgte Rufe wie durch Meter von dichter Watte.
Und plötzlich hörte er aus dem Gewirr der Stimmen ein Gespräch heraus, das sicher nicht für ihn bestimmt war.
»Er ahnt etwas«, sagte Josephine leise.
»Du sagtest, es würde wieder Zeit?«, fragte HD Bruhns. »Bei wem?«
»Änna«, antwortete Josephine. »Ich glaube, sie hat Ideen. Auch wenn sie es nicht zugibt.«
»Morgen Nacht ist Neumond«, murmelte Bruhns, scheinbar zusammenhanglos.
Dann war es still. Frederic hatte das Bewusstsein verloren oder das Bewusstsein hatte ihn verloren, und für eine Weile gingen die beiden getrennte Wege.
»Frederic?« Das war Hendriks Stimme. »Frederic? Kannst du mich hören? Mensch! Frederic? Antworte mir!«
Frederic spürte, wie jemand seinen Körper schüttelte, aber noch drang das Geschüttel nicht zu seinem Kopf durch. Sein Geist hatte sich irgendwo in den Bildern des Vormittags verheddert. Er kickte und strampelte sich durch diese Bilder, und dann, endlich, kam er frei. Frederic schlug die Augen auf.
Genau in diesem Moment gab ihm sein Vater eine Ohrfeige. Hinter der Ohrfeige war sein Gesicht zu sehen, verschwommen noch und unscharf, dann schärfer … Warum war Hendrik so ärgerlich? Er hatte die Hand zu einem weiteren Schlag erhoben, hielt aber jetzt mitten in der Luft inne.
»Hendrik«, flüsterte Frederic. »Hör … hör auf damit!«
Da ließ Hendrik die Hand sinken, zog Frederic hoch und umarmte ihn. Neben ihm saß ein Mann in einer signalorangefarbenen Jacke mit silbernen Reflektorstreifen an den Seiten, einem Koffer neben sich und einem Stethoskop um den Hals. An ihm war ein Schild »Notarzt« befestigt, und das war gut so, denn sonst hätte man ihn für einen verrückten Radrennfahrer auf der Flucht gehalten. Bei dem Mann standen noch zwei verrückte Radrennfahrer in orangefarbenen Jacken. Hinter ihnen hatte sich eine kleine Menge aus Schülern und Lehrern versammelt. Sie befanden sich in der Pausenhalle, am Fuß der großen Treppe, die mitten in die Halle hinabführte.
»Warum bist du so wütend?«, flüsterte Frederic in Hendriks Pullover.
»Wütend? Ich bin nicht wütend«, flüsterte Hendrik zurück. »Ich hatte Angst. Ich wollte, dass du aufwachst.«
»Nette Art, jemanden zu wecken«, knurrte Frederic. »Ihn zu ohrfeigen!«
»Besser, als einen überhaupt nie mehr zu wecken«, sagte Hendrik. Seine Stimme war ganz flach und staubig. »Sie haben mich angerufen. Was ist passiert?«
»Ich habe …« Dinge gesehen, wollte Frederic antworten. Irre Dinge, wie in den Filmen, wenn jemand unter Drogen ist. Dinge, die es nicht gibt. Doch er sagte es nicht. Er blickte in das Gesicht von HD Bruhns, in dem zwei Reihen scharfer Zähne blitzten. Frederic seufzte innerlich. Er sah noch immer.
»Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich krank«, murmelte er.
»Lass uns nach Hause gehen«, sagte Hendrik, stand auf und half Frederic auf die Beine. »Ich nehme den Jungen mit.«
»Gehen Sie so bald wie möglich zu Ihrem Hausarzt«, sagte der Notarzt. Hendrik nickte. »Lassen Sie ein EEG schreiben«, sagte der Notarzt. »Vermutlich war er nur unterzuckert. Aber man weiß nie.«
Frederic hatte keine Ahnung, was »unterzuckert« und was ein EEG war. Aber er wusste, dass ein Arzt – welcher auch immer – nichts bei ihm finden würde. Es sei denn, er war Augenarzt. Und er war sehr, sehr gut. Vielleicht würde er dann Spuren einer Überdosis Vitamin A entdecken und bei Frederic eine 500-prozentige Sehschärfe feststellen.
Bruhns und eine Handvoll Schüler begleiteten sie durch das bröckelige Portal mit den Engelchen, hinaus in den Hof.
»Gute Besserung«, sagte Josephine und winkte. Alle Münder ihrer linken Hand grinsten dabei verschlagen. Frederic sah weg.
Als
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