Nacht der gefangenen Träume
hatte sich nicht verändert. Er atmete langsam aus. Sie hatte ihn angeschwindelt.
»Gefärbtes Wasser«, flüsterte er und lachte erleichtert. »Es ist nichts als gefärbtes Wasser.«
Und dann ging er ins Bett und fiel in einen tiefen dunklen Schlaf. In seinen Träumen glitt Ännas Bild wie ein Fisch durch ein Meer aus orange gefärbtem Wasser. Doch er hatte sich geirrt. Es war kein gefärbtes Wasser gewesen.
Am nächsten Morgen sollte er es erfahren.
Hendrik war schon fort, als Frederic aufwachte. Er hatte einen Zettel an den Wasserkocher geklebt, auf dem stand, er müsse heute früher arbeiten und Frederic solle einen schönen Tag haben. Frederic schmierte sich eine Stulle für die Pause, trank seinen Kakao und schwieg allein. Es machte ihm nichts aus, ohne Hendrik zu frühstücken. Er dachte über eine Maschine nach, die gleichzeitig Brot toasten, Kakao kochen und Kaffee rösten konnte, verschob ihre weitere Entwicklung auf den Nachmittag und machte sich gedankenverloren auf den Weg zum Gymnasium St. Isaac. Vor dem Haus traf er Lisa, die gerade aus ihrem Fenster stieg, am Arm eine regenbogenbunte Einkaufstasche. Frederic nickte ihr zu, und erst nachdem er an ihr vorübergegangen war, fiel ihm auf, dass etwas verkehrt gewesen war.
Etwas war nicht so gewesen wie sonst.
Er drehte sich um. Und dann sah er es: Da war Luft zwischen Lisas Schuhsohlen und dem Bürgersteig. Sie … sie … schwebte . Nur eine knappe Handbreit über dem Boden. Aber sie schwebte. Eindeutig. Frederic blinzelte. Kein Zweifel. Lisa ging dort die Straße hinunter, die Einkaufstasche schlenkernd, pfeifend, wie eine ganz normale junge Frau, doch ihre Füße berührten den Asphalt nicht. Und das Irrste an der Sache war, dass sie selbst nichts davon zu wissen schien.
Die Straße sah aus wie immer. Frederic blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, doch der Bürgersteig erstreckte sich in grauer und endloser Normalität vor ihm, und die Häuserblocks reckten ihre eckigen Silhouetten so gelangweilt in den wolkigen Himmel wie jeden Tag. In den Bäumen an der Straße sang eine verschlafene Amsel. Eine Ampel schaltete von Rot auf Grün. Aus einem vorbeifahrenden Auto quoll Radioreklame.
Bestimmt hatte er sich das mit Lisa nur eingebildet. Er vergrub die Hände tief in den Taschen und schlenderte nachdenklich die Straße entlang: ein ganz normaler Schüler an einem ganz normalen Morgen. Im Schulhof standen ganz normale Fahrräder in ganz normalen Fahrradständern … und dann traf Frederic Änna.
Und die Normalität wich.
Änna ging langsam und schlurfte wie immer. Die Bäume an der Mauer rauschten mit ihren Ästen und blickten zu ihr hinab. Sie sahen schon lange. Und nun sah auch Frederic, was die Bäume sahen: An Ännas rechtem Fuß war eine Kette befestigt. Eine grobgliederige, starke Eisenkette, an deren Ende eine Kugel hing. Er sah weg, sah wieder hin, kniff sich in den Arm: Die Kette blieb an ihrem Platz. Kein Wunder, dass Änna die Füße nicht hob – oder besser: den rechten Fuß. Sie schleifte bei jedem Schritt die schwere Kugel mit. Und auch Änna, dachte Frederic, wusste vermutlich nichts von der Kette.
»Änna«, sagte Frederic.
Sie drehte sich um und lächelte wieder ihr trauriges Lächeln, das ihm nicht gefiel. »Guten Morgen, Frederic.«
»Ich wollte dir nur sagen, du hast da – an deinem Fuß …«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Was?«
»Ach, nichts.«
Er konnte es nicht sagen. Es war zu absurd. Sie würde ihm nicht glauben.
Im Klassenzimmer setzte er sich benommen auf seinen Platz. Der Raum hatte sich nicht verändert: Die Hamster auf den Apothekenpostern grinsten so schamlos wie immer. Aber die anderen in der Klasse … die anderen hatten sich verändert. Alle. Träumte er? Er, Frederic der Träumer?
Er konnte sich nicht auf den Matheunterricht konzentrieren.
Hinter ihm saß der starke Georg und malte in seiner großkringeligen, langsamen Schrift etwas in sein Heft. Und auf einmal erschien es logisch, dass er so mühevoll schrieb. Er konnte den Stift kaum halten.
An diesem Morgen sah Frederic, dass Georgs Hände aus Eisen waren. An diesem Morgen sah Frederic, dass in Manuels Augen Primzahlen schwammen. An diesem Morgen sah Frederic, dass in manchen Wimpern Tränen aus Glas festhingen, die niemals gefallen waren. An diesem Morgen sah Frederic alles.
Er saß stumm auf seinem Platz und beobachtete, wie die Ziesel sie zum Bruchrechnen an die Tafel rief: einen nach dem anderen. Die geheimen Angsthasen mit
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