Nacht der gefangenen Träume
Hendrik und er den Schulhof verließen, waren die anderen bereits wieder hineingegangen. Nur eine einsame kleine Gestalt stand noch unter der Kastanie, mitten in einem wirbelnden Kreisel aus Herbstlaub, und sah ihnen nach. Eine kleine Gestalt mit einer Kette und einer schweren Eisenkugel am Fuß.
Frederic fielen die letzten Worte ein, die er gehört hatte, ehe die Welt um ihn für ein Weilchen verschwunden war:
Es wird wieder Zeit. Bei wem? Änna. Morgen Nacht ist Neumond.
Zeit für was?
Später saßen sie zu zweit in der Küche und tranken Tee.
»Sie haben mich auf dem Handy angerufen«, sagte Hendrik, den Blick in die Teetasse versenkt. »Zum Glück war ich ganz in der Nähe. Es war genau wie damals. Genau wie bei Anna. Nur dass damals das Telefon zu Hause klingelte.«
Eine Weile brummte nur der alte klobige Kühlschrank einen blauen Ton in die Luft.
»War sie … schon tot?«, fragte Frederic schließlich in seinen Tee hinein. »Als du ankamst?«
»Ja. Ich … war zu spät.« Hendrik stand abrupt auf. »Wir gehen morgen hin. Zum Arzt. Jetzt brauche ich erst mal eine Dusche. Wie ist es mit dir?«
Frederic blickte auf und bemühte sich zu lächeln. »Geh du zuerst.«
Hendrik nickte, zog seinen Pullover aus und hängte ihn über einen Küchenstuhl. Dann ging er die zwei Schritte durch den Flur bis zur Badezimmertür mit dem uralten aufgeklebten roten Fisch, streifte das karierte Hemd ab und drehte sich noch einmal zu Frederic um.
»Mach das nicht noch mal«, sagte er schroff.
Frederic erschrak. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Stimme war vorübergehend verloren gegangen.
Über Hendriks bloße linke Brust zog sich eine weite, klaffende Wunde. Sie war an einigen Stellen verschorft, an einigen beinahe verheilt und an einigen offen bis aufs Fleisch. Aus der Mitte rann ein Tropfen Blut, als wäre die Wunde dort gerade heute wieder aufgebrochen. Erst als die Dusche schon ein paar Minuten lang lief und er Hendrik leise summen hörte, begriff Frederic. Es war keine echte Wunde. Oder: Es war eine sehr echte Wunde. Aber eine, die nur er sah.
Woher stammte sie?
Frederic ging ins Wohnzimmer, machte die kleine Klemmlampe über Hendriks Schreibtisch an und betrachtete lange Annas Foto, das dort die verblichene Blümchentapete unterbrach. Es zeigte sie draußen im Garten, an einem Sommertag voll gelber Sonnenstrahlen. Die Schatten des Holunderstrauchs malten unregelmäßige Flecken auf ihr Gesicht. Früher hatte es ihn immer geärgert, dass man dieses Gesicht nicht genau erkennen konnte, doch nun kam es ihm vor, als blinzelte Anna ihm zwischen den Holunderschatten im Geheimen zu. Vielleicht hätte sie es gewusst. Vielleicht hätte sie ihm mit der Wunde helfen können.
»Ich verspreche dir, es herauszufinden«, flüsterte er Anna-auf-dem-Foto zu. »Und ich verspreche dir noch etwas. Ich werde auch herausfinden, was Bruhns vorhat. Es kann nichts Gutes sein. Ich werde ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Und dann, dann werde ich mich darum kümmern, Hendriks Wunde zu schließen.«
Eine Menge Versprechen für einen einzigen Tag.
Vor allem, wenn man nicht die geringste Ahnung hat, wie man auch nur eines der vielen Versprechen einlösen soll.
3. Kapitel
An einem Donnerstag gegen halb zwölf Uhr nachts
»Du hast wahrscheinlich nicht gleich verstanden, was all das bedeutete«, sage ich. »Oder?«
»Natürlich nicht«, antwortet Frederic. »Wie denn? Am Anfang war ich vor allem verblüfft. Und es war auch irgendwie gruselig. Ich wusste nie, was ich hinter der nächsten Ecke sehen würde.«
Er ist lauter geworden als nötig und nagt hektisch an seiner Unterlippe.
»Schon klar«, sage ich. »Es sollte kein Vorwurf sein. Ich hätte auch nichts verstanden.«
»Ich habe begonnen, es zu verstehen«, sagt Frederic leiser. »Nach und nach. Das Erste, was ich verstand, war die Kugel an Ännas Fuß. Ich wachte mitten in der Nacht auf und begriff plötzlich. Natürlich konnte Änna mit der Kugel nicht auf einem Schwebebalken balancieren. Nicht einmal ein Akrobat hätte das gekonnt. Aber Ännas Kugel war nicht einfach nur eine Kugel an einer Kette, die man mit einer Metallsäge durchsägen konnte. Es war eine Kugel aus Unsicherheit. Aus Angst. Die Dinge, die ich sah, waren … Meta…«
»Metaphern?«
»Richtig. Bilder. Wie geheime Botschaften. Bilder für die Stärken und Schwächen der Leute. Für all ihre geheimen Eigenschaften. Manche waren sofort klar. Manche waren kaum zu begreifen. Ich habe
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