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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ihm weit voraus, doch Frederic würde ihn einholen. Diesmal würde er ihm nicht entwischen.
    Er war ihm auf den Fersen, oder besser: auf dem Reifenprofil.
    »Er ist da entlang«, sagte Lisa. »Aber schon vor einer Weile. Warum musst du ihn denn so dringend sprechen?«
    Das Mädchen sah auf den Boden. »Nur so.«
    »Du kannst ihm ja nachfahren. Er hat eine Spur hinterlassen.«
    »Eine Spur?«
    »Allerdings. Dort, siehst du?«
    »Was ist das? Gelbe Farbe?«
    Lisa zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, sie stammt von meiner Tür. Ich benutze sie nicht, und da wollte ich sie wenigstens streichen.«
    »Gelb wie die Sonnenblumen«, murmelte das Mädchen. »Gelb wie die Federn.«
    Dann stieg es auf sein eigenes Rad und fuhr die Straße hinunter, der sonnenfederngelben Spur nach. Beim Treten schien das Mädchen Schwierigkeiten zu haben, so als stimmte etwas mit ihrem rechten Fuß nicht.
    »He!«, rief Lisa. »Wie heißt du überhaupt?«
    Frederic erreichte den alten Herrn eine Straße weiter, gerade rechtzeitig, ehe er abbog. Er hielt sich in ausreichender Entfernung, damit der Alte ihn nicht entdeckte. Der Alte fuhr langsam, aber stetig, weiter und weiter, und nach einer Weile ließen sie den Teil der Stadt, den Frederic kannte, hinter sich. Die Häuser wurden neuer und begannen, alle gleich auszusehen; Neubaugebiete, deren Gebäude wirkten wie Spielzeughäuser auf einem Regal im Laden: weiß-mit-rotem-Dach-plus-zwei-Quadratmeter-Garten mal 25, danach braun-mit-schwarzem-Dach mal 30, zur Abwechslung pastellgrau-mit-Jägerzaun mal 15, und Frederic dachte, dass er aus dieser Gegend wahrscheinlich nie, nie wieder hinausfinden würde. Identische Golden Retriever trotteten hinter identischen Toren auf und ab, und identische glückliche Jungfamilien fuhren identische Autos in identische Garagen … von Bruhns wusste Frederic, dass »identisch« dasselbe ist wie »gleich«. Die ganze Umgebung befand sich offenbar in einer Identitätskrise: Zu viel Identität tut auch nicht gut.
    Nach den Neubausiedlungen wurden die Straßen breiter und staubiger, warfen ihre Mittelstreifen ab und schmückten sich mit Schilderbäumen: 200 Meter zu Paulchens Pommes-Paradies, Holgers Werkzeug-Reparatur, Inlet-Outlet, Matratzenlager Rosie … Immer weiter fuhr der alte Herr, vorbei an den brachliegenden Parkplätzen des Industriegebiets, vorbei an Haldenmüll auf Müllhalden und Wertstoffsammelstellen wertloser Stoffe. Und dann, schließlich, als Frederic schon befürchtete, der Alte hätte sich in den Kopf gesetzt, mit dem Fahrrad einmal um den Globus zu hetzen, hielt er vor einer Mauer an, stieg ab und öffnete ein großes Eisentor.
    Dürres, mageres Gelbgras streckte dahinter seine Halme in die abgasige Luft, und Frederic dachte »Abgras«. Es beruhigte sein flatterndes Herz, Worte zu erfinden.
    Der alte Herr zog das Tor hinter sich wieder zu, doch zum Glück besaß es kein Schloss. Nachdem Frederic sein Fahrrad ein Stück weiter weg auf den Boden gelegt hatte, schlüpfte er ihm nach; schlüpfte zwischen den eisernen Torflügeln hindurch und –
    Was hatte er erwartet? Ein Schloss? Eine Blumenwiese voller sonnengelber Federblumen?
    Er stand auf einem riesigen alten Fabrikgelände, und mitten darauf ragte eine riesige alte Fabrik in den Himmel. Ihre Schornsteine hatten wohl schon seit Langem das Rauchen aufgegeben, und ihre Tore waren allesamt verschlossen und rostig.
    Das Nachmittagslicht malte einen scheinheilig blauen Himmel voller kleiner weißer Wolken hinter die Fabrik, und der Wind knarrte irgendwo in ihren Eingeweiden sein unmelodisches Lied. Schrotthaufen zierten das Gras: hier ein alter Sessel, dessen Sprungfedern unternehmungslustig aus der Sitzfläche ragten, dort ein verbogener Fahrradrahmen, ein Schuh, ein Stück Maschendrahtzaun, ein Stapel von Well-Asbestplatten.
    Der alte Mann ging zwischen Müll und Abgras hindurch auf die Fabrik zu. Frederic wartete im Schatten der Mauer, zu der auch das Metalltor gehörte. Hier auf offenem Gelände würde es schnell auffallen, wenn er dem Alten direkt folgte. Er sah von ferne, wie der Mann einen Schlüsselbund aus der Tasche holte und eine Seitentür der Fabrikhalle aufschloss. Einen Augenblick später war er in der Dunkelheit hinter der Tür verschwunden. Frederic atmete tief durch. Wahrscheinlich war es dumm, dem alten Mann zu folgen. Wahrscheinlich war es gefährlich. Wahrscheinlich sollte man es nicht tun.
    Er schlich durchs Gras, nervös wie ein Kaninchen, lauschte hinter sich,

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