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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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vorzusagen.
    Änna.
    Frederic schluckte. Alles in ihm verlangte danach, Änna zu antworten. In seinem Kopf entstanden Buchstaben, Worte, Sätze.
    Änna. Es ist alles ganz anders, als du denkst. Sie beobachten dich. Überall. Ich habe dir doch gesagt: Du musst so tun, als wärst du brav und langweilig. Warte. Nur noch ein Weilchen. Ich werde dir alles erklären.
    Doch auf der Seite, die er kurze Zeit später aus seinem Hausaufgabenheft riss, erschienen andere Sätze:
    Änna. Schreib mir nicht. Lass mich in Ruhe. Du nervst.
    Frederic.
    Er hatte den Zettel gerade gefaltet, als Josephine sich meldete und fragte, ob sie zum Papierkorb gehen dürfe, um ihren Bleistift zu spitzen. Wieso musste sie in Latein einen Bleistift spitzen? Claudius machte eine Blase, die offenbar Ja bedeutete, denn Josephine stand auf. Und gleich darauf wurde Frederic klar, weshalb sie zum Papierkorb wollte. Auf dem Weg dorthin kam sie an Frederics Tisch vorbei und griff ganz plötzlich nach Ännas Brief, der dort lag.
    Josephine war schnell, doch Frederic war schneller.
    Er schnappte ihr den Brief weg, knüllte ihn zusammen und steckte ihn in den Mund. Josephine starrte ihn an. Ihr Blick war pure, unverdünnte Säure. Frederic starrte zurück, kampflustig, und zerkaute langsam das Papier. Er beförderte die Stücke mit der Zunge ganz nach hinten in seinen Gaumen, würgte; zwang sich zu schlucken.
    Josephine drehte ab und stampfte zum Papierkorb. Selbst von hinten konnte man sehen, wie wütend sie war. Frederic lächelte.
    Dann faltete er seinen eigenen Brief zu einem Flieger und schoss ihn quer durchs Klassenzimmer. Josephine musste ihn sehen. Sie sah ihn. Sie wandte sich vom Papierkorb ab, bückte sich, las. Kurze Zeit später kam der Brief bei Änna an. Josephine lieferte ihn ab wie ein Postbote, ihr Gesicht überquellend von falscher Liebenswürdigkeit. Frederic sah Ännas fragenden Blick. Ist dieser Brief, fragte ihr Blick, wirklich von dir? Und er nickte quer durchs Klassenzimmer. Das Lächeln in seinem Herzen verdorrte wie ein Gedicht auf Asphalt.
    Schreib mir nicht. Lass mich in Ruhe.
    Sie würde ihn in Ruhe lassen und sicher sein, sicher vor Josephine und vor Bruhns und Fyscher und vor der Traum-sammel-Maschine. Für eine Weile. Alles war gut.
    Aber wenn alles gut war, warum fühlte er sich dann so rundherum scheußlich?
    Schließlich war es ihm egal, was Änna von ihm dachte. Ganz egal. Sie war ein Mädchen. Er kannte sie nicht. Er hatte nichts mit ihr zu tun. Oder?
    Es geschah wenig später, in der fünften Stunde, in Bio.
    Kahlhorst, der gerade einen Schokoriegel aß und glaubte, keiner würde es merken, sagte, er bräuchte jemanden, der für ihn im Sekretariat einen Stapel Arbeitsblätter über den Lebenszyklus der Gemeinen Sumpfmücke kopierte. Josephine meldete sich, und zuerst dachte Frederic, sie täte es, weil sie sich immer meldete – einfach aus Gewohnheit. Aber als Kahlhorst ihr zunickte, sagte sie: »Ich möchte jemanden mitnehmen. Zu zweit geht es schneller mit dem Kopieren, dann verpassen wir nicht so viel von Ihrem interessanten Unterricht.«
    Kahlhorst warf ihr einen skeptischen Blick zu. Vermutlich fand nicht einmal er die Lebenszyklen der Gemeinen Sumpfmücke besonders prickelnd.
    »Ich nehme Frederic mit«, erklärte Josephine. Als wäre Frederic eine Einkaufstasche. Hätte er sich in diesem Moment bloß geweigert! Josephine war schlau. Und später fragte sich Frederic, ob nicht eine ganz besondere Art von Ideen in ihrem Kopf verblieb, die im Erdbeerpudding besonders gut gedieh. Die gemeinen, hinterhältigen Ideen, die Bruhns gefielen. In jedem Fall erhob er sich von seinem Platz und ging mit.
    Auf dem Weg zum Sekretariat schwieg Josephine. Doch sie schwieg, das spürte Frederic, in Vorbereitung auf etwas. Wie eine tickende Zeitbombe.
    Die Zeitbombe explodierte im Sekretariat.
    Frederic konnte mal wieder nirgends eine Sekretärin entdecken; nur die große Kaffeemaschine stand auf dem Bürostuhl und gluckerte vor sich hin. Josephine kopierte das Arbeitsblatt dreißig Mal, ohne dass sie Frederic zu irgendetwas gebraucht hätte. Danach ging sie zum Fensterbrett, nahm die Gießkanne, die dort neben dem Parmafaulchen stand, und kam zurück.
    »Was willst du denn gießen?«, fragte Frederic. »Mich? Bist du jetzt komplett übergeschnappt?«
    Wenn sie dachte, er hätte Angst vor Wasser, hatte sie sich getäuscht. Doch Josephine hatte nicht vor, das Wasser über Frederic zu kippen.
    »Sag mir, woher du das mit dem Pudding

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