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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Moment später fanden sie sich beide auf dem Boden wieder, im dürren Gras, zwischen dreckigen Plastikverpackungen und rostigen Drahtrollen.
    »He … Frederic!«, keuchte Änna.
    Er kam auf die Knie. Stand auf. Zerrte sie auf die Füße. Wie kam sie hierher? Wie hatte sie ihn gefunden? Keine Zeit für Fragen. Im Qualm war jetzt eine Stimme, verzerrt vom Rauch: Ist da jemand?
    Eine zweite: Mir war, als hätte ich jemanden gesehen.
    Sie rannten. Fort von dem Nebelfeld der Zigarren, fort von dem schwarzen Schacht darin, fort von der alten Fabrik, fort von den Schritten, die ihnen jetzt folgten. Da war das Tor. Sie zwängten sich hindurch, Frederic hob sein Rad auf, und auch Änna ergriff den Lenker eines Fahrrads.
    Das Industriegebiet flog an ihnen vorbei, die Menschen im Neubaugebiet starrten ihnen mit identischem Stirnrunzeln nach, die Straßen wurden enger, die Häuser älter … niemand folgte ihnen. Oder?
    Und schließlich, Lichtjahre weit entfernt und doch nur einen Wimpernschlag, merkte Frederic, dass er an einer Wand lehnte und nach Atem rang. Neben ihm lehnte Änna. Es war die Wand des Hauses mit der Landkartenfassade. Und im Fenster schwebte Lisa noch immer mit untergeschlagenen Beinen und tat so, als wäre sie ganz und gar vertieft in ein Buch. Aber sie hielt es verkehrt herum.
    »Wer etwas verändern will, muss sehen«, sagte Frederic, als er kurz darauf mit Änna in der Küche stand.
    »Sehen?«, fragte Änna zaghaft.
    Er nickte und holte den Würfelzucker aus dem Schrank. Am Wasserkocher klebte wieder einmal ein Zettel, der diesmal verkündete, Hendrik würde erst gegen acht Uhr wiederkommen. Frederic erinnerte sich, dass er ihn recht eilig verlassen hatte. Armer Hendrik. Er musste wirklich denken, sein Sohn wäre auf dem besten Wege, verrückt zu werden.
    Änna und Frederic setzten sich gegenüber an den blauen Küchentisch.
    »Warum bist du mir gefolgt?«, fragte Frederic.
    Ihre grauen Augen waren ernst. »Warum hast du Sonnenblumen vor meine Tür gelegt? Warum hast du mir geschrieben, ich solle dich in Ruhe lassen?«
    »Okay.« Er lächelte. »Wir sind quitt. Keine Antworten.«
    Und sie lächelte zurück, ein schmales, scheues Lächeln, das sich nicht ganz heraus auf ihr Gesicht traute. »Keine Antworten. Hauptsache, ich war da. Es wäre vermutlich keine gute Idee gewesen, in diesen Schacht zu fallen.«
    »Nein, das wäre es nicht. Ich … Danke.«
    Wurde er rot?
    »Und wegen des Briefs in der Schule …«
    »Keine Antworten«, wiederholte sie. »Ich habe es schon verstanden. Dass es ein Trick war. Okay, am Anfang noch nicht. Aber später. Ich habe es irgendwie … gespürt.«
    Er nickte. Änna war jemand, der die Dinge spürte. Genauso, wie sie gespürt hatte, dass Kahlhorst Flügel besaß. Und dass Josephine Frederic gebissen hatte.
    »Wenn du siehst, ist es noch einfacher«, sagte Frederic.
    »Wenn ich … sehe?«, fragte sie.
    Er stellte die winzige Flasche mit dem orangefarbenen Inhalt auf den Tisch: feierlich. Als wäre sie der Gral und das Goldene Vlies und sämtliche verlorenen Picasso-Werke in einem. Er hatte es entschieden, als sie ihn aus dem Nebel gezogen hatte. Er konnte nicht allein weitermachen. Er brauchte einen Freund.
    Er brauchte sie.
    Änna stützte den Kopf auf die Hände und sah zu, wie Frederic das Stück Würfelzucker auf einen Teelöffel legte und den restlichen Inhalt der Flasche daraufträufelte, bis der Zucker sich orange färbte und zu einem Häufchen zerschmolz.
    »Ich habe Angst«, flüsterte Änna. »Was für Dinge werde ich sehen?«
    »Alles«, antwortete Frederic. »Die Wahrheit. Über die Leute. Wie ich.«
    Sie nickte. Alles andere hatte er ihr bereits auf dem Weg hierher erzählt: von Bruhns und seiner Maschine und den Träumen, von den Stimmen aus dem Schacht, einfach von allem; hektisch und stotternd. Aber sie hatte ihn verstanden. Sie war nicht Hendrik. Sie war Änna.
    Als sie ihm den Teelöffel aus der Hand nahm, zitterten ihre Finger. Doch sie schloss die Augen, öffnete den Mund und schob den Zucker mit Todesverachtung hinein. Frederic beobachtete jede ihrer Bewegungen. Er sah zu, wie sich ihr Mund schloss, wie sie schluckte, wie sie den letzten Krümel von ihrer Oberlippe leckte, einer schmalen roten Oberlippe, und mit einem Mal wurde ihm ein wenig komisch zumute. Er hatte noch nie über die Lippen eines Mädchens nachgedacht.
    Änna öffnete die Augen und sah sich um. »Wusste ich es doch«, sagte sie.
    »Was? Was wusstest du?«
    »Oh, über dich.«
    Er

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