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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Hof sah Frederic zu den Fenstern empor, hinter denen seine Klasse die zweite Doppelstunde über den Lebenszyklus der Gemeinen Sumpfmücke über sich ergehen ließ.
    Eines der Fenster stand offen. Jemand saß dort und beobachtete sie. Josephine, dachte Frederic. Doch es war nicht Josephine. Es war Änna.
    Auf dem Weg nach Hause schob Hendrik sein Fahrrad schweigend neben Frederic her. Erst vor der Haustür entdeckte er irgendwo in seinem Sprachzentrum vereinzelte Satzbausteine.
    »Wieso hast du das getan?«
    »Ich habe es nicht getan«, antwortete Frederic. »Das war Josephine. Sie hasst mich.«
    »Weshalb?«
    »Weil ich ihr gesagt habe, dass ich Dinge sehe. Zähne. Und die Eisenkugel. Sie ist die Aufpasserin. Für Bruhns. Hendrik, es ist alles so kompliziert …«
    Die Worte fielen aus ihm heraus wie überreife Äpfel. Aber überreife Äpfel werden faulig, und Frederics Worte hatten im Gärvorgang ihren Zusammenhang verloren. Er merkte selbst, dass das, was er sagte, keinen Sinn ergab. Dennoch konnte er nicht aufhören zu reden. Er redete bergab und fand die Bremse nicht: Von Erdbeerpudding und Sonnenblumen redete er, von Rattenfallen, von toten Katzen und von Sondersendungen, von Riesenzungen und Stofftaschen und Fingerzähnen und Saugnäpfen …
    Am Ende holte er tief Luft und sah Hendrik an. Hendrik runzelte die Stirn.
    »O-kaaaa-y-yy?«, sagte er schließlich langsam. Und dann, nach einer Minute Schweigen, ohne auf Frederics Wortschwall einzugehen: »Wir können das nicht bezahlen. Den Computer. Nicht zusätzlich zum Schulgeld für St. Isaac und alles. Vielleicht ist es doch besser, wenn du auf eine andere Schule gehst. Du wolltest sowieso weg, oder?«
    Hatte er Frederic denn überhaupt nicht zugehört?
    »Nein!«, rief Frederic. »Doch. Natürlich wollte ich weg. Aber jetzt nicht mehr! Ich kann nicht weg! Ich muss etwas herausfinden – es sind nur noch acht Tage! Lass mich noch acht Tage auf St. Isaac, nur noch acht! Später, wenn ich irgendwann Geld verdiene, zahle ich den blöden Computer zurück!«
    Hendrik nickte. »Wir sollten bald noch mal zum Arzt, glaube ich.«
    Das also war es. Er dachte, mit Frederics Kopf wäre etwas nicht in Ordnung. Frederic hätte genauso gut versuchen können, einer Wand zu erklären, was auf St. Isaac los war. Die Wand hätte ihn wenigstens nicht für verrückt gehalten.
    Hendrik seufzte. Und dann sagte er etwas Erstaunliches. Er sagte: »Acht Tage gebe ich dir. Wenn es in acht Tagen nicht besser ist, gehst du. Es ist günstiger, die Schule zu wechseln, ehe sie einen hinausschmeißen. Wenn sie das tun, ist es schwer, eine andere Schule zu finden. Hörst du? Und … lass die Finger von den Computern.«
    Frederic nickte. »Ich verspreche es. Sie werden mich nicht hinausschmeißen. Ich fasse keinen Computer mehr an.«
    Warum verstehen Erwachsene nie, was man ihnen zu erklären versucht? Warum versucht man Erwachsenen zu erklären, was sie ohnehin nicht verstehen?
    Auf der Treppe trafen sie die alte Dame aus dem zweiten Stock, und Hendrik grüßte sie mit einem höflichen Nicken. Frederic starrte sie nur an. Sie hatte tatsächlich einen langen, rosa geringelten Rattenschwanz. Und Schnurrhaare links und rechts der faltigen, altersfleckigen Nase.
    Sie war nicht allein. Bei ihr war ein alter Herr, mit dem sie sich so leise unterhielt, dass Frederic im Vorbeigehen kein Wort verstand. Erst in der Wohnung drang das Bild ganz in sein Bewusstsein: die Rattendame und der alte Herr, auf dem Weg die Treppe hinunter – er stürzte ans Küchenfenster, um auf die Straße hinabzublicken.
    Ja. Er war es.
    Die beiden verabschiedeten sich vor dem Haus, und der alte Herr stieg auf ein wackeliges schwarzes Fahrrad.
    »Hendrik?«, rief Frederic. »Ich muss noch mal weg, hab’ was vergessen – mach dir keine Sorgen …«
    Er raste die Treppe so schnell hinunter, dass er dreimal beinahe ausgerutscht wäre. Jetzt nur keine Zeit verlieren: das Rad die Stufen hinaufzerren, aus dem Keller, an Lisas Tür vorbei, die zwar noch immer verschlossen, aber dafür frisch und leuchtend gelb gestrichen war, durch die Haustür, auf die Straße, aufsteigen, sich umsehen –
    »He, Frederic!«, rief Lisa, die im Schneidersitz über ihrem Fensterbrett schwebte und las. »Wohin …?«
    »Keine Zeit!«, rief Frederic. »Muss da entlang!«
    Und damit befand er sich auch schon auf der Straße; der schnellste Radfahrer der Stadt, zumindest in dieser Minute: Der alte Mann mit dem speckigen, abgewetzten Jackett war

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