Nacht der gefangenen Träume
sah an sich hinab. »Was ist mit mir?«
In diesem Moment knirschte Hendriks Schlüssel im Schloss. Änna sprang auf, nervös. »Es … es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte sie. »Wir sehen uns morgen in der Schule. Ich werde so tun, als wäre alles normal, aber vielleicht können wir uns hinterher unterhalten?«
Frederic war ebenfalls aufgestanden. Er streckte einen Arm aus, um sie zurückzuhalten, doch seine Hand blieb in der Luft hängen, ohne sie zu berühren.
»Du kannst sicher zum Abendessen bleiben. Ich glaube nicht, dass mein Vater etwas dagegen hat.«
Änna schüttelte den Kopf. »Meine Eltern machen sich sicher schon Sorgen.«
»Sie sind blind«, murmelte Frederic. »Du wirst schon sehen.«
Doch das hörte Änna nicht mehr. Sie stieß in der Tür mit Hendrik zusammen, der ein erstauntes »Oh« von sich gab – für seine Verhältnisse schon eine dreiseitige Rede –, und gleich darauf hörte Frederic ihre Schritte auf der Treppe.
Die Kette an ihrem rechten Fuß rasselte leise und die schwere Eisenkugel polterte Stufe für Stufe hinab wie ein mittlerer Erdrutsch.
Es wurde Zeit, dass jemand diese Kette sprengte. Bald.
Noch sieben mal vierundzwanzig Stunden bis zur letzten Nacht der Träume. Was immer das hieß.
6. Kapitel
Die letzte Nacht
»Ich hatte also eine Spur hinterlassen? Weil ich an Lisas Tür vorbeigeschrammt war? Deshalb hat Änna mich gefunden? Oder hast du dir die Spur nur ausgedacht?«
»Vielleicht war die Spur eine Metapher.«
»Ein Bild für etwas anderes? Und wofür stand die Spur?«
»Metaphern erklärt man nicht. Entweder erklären sie sich von allein, oder sie bleiben ein Rätsel.«
»Aber nicht jedes Rätsel ist eine Metapher, oder? Zum Beispiel das Rätsel, was nach der letzten Nacht der Träume geschehen würde. Das stand nicht für etwas anderes.«
»Wer weiß?«
»Es war einfach nur ein Rätsel. Wir mussten es lösen, und das haben wir getan, wenn auch beinahe zu spät. Ich wusste gleich, dass wir zurückgehen mussten. Zu der alten Fabrik. Nachdem Änna weg war, habe ich den Dietrich aus der Kiste neben meinem Bett geholt. Es ist ein besonderer Dietrich. Ich kann ihn dir zeigen, wenn du willst. Ich habe ihn noch. Er ist aus einem Dosenöffner hergestellt.«
»Zeig ihn mir später. Jetzt muss zuerst die Geschichte weitergehen.«
»Was kommt denn?«
»Ein Postbote. Doch als Erstes … als Erstes sitzt du auf der Kastanie. Und dann taucht Josephine auf.«
»Oh. Ich erinnere mich.«
Er verstummt, runzelt die Stirn, überlegt. Arme Unterlippe.
»Vergiss Kahlhorst nicht«, sagt er schließlich. Und dann, nachdenklich: »Sind die gestutzten Flügel von Kahlhorst auch … eine Metapher?«
»Kann schon sein«, sage ich. »Man kann in allem eine Metapher sehen. Selbst in den eigenen Schnürsenkeln.«
Frederic lacht. »Mach den Computer an!«, sagt er. »Die Geschichte wartet.«
Am nächsten Morgen war Frederic zu früh am Tor von St. Isaac.
Er wartete ungeduldig neben dem Stein mit der angeberisch großen Inschrift, kontrollierte abwechselnd die Zeiger seiner Armbanduhr und den Gehsteig und ließ die Morgenkolonne aus Schülern und Lehrern, Oberschülern und Oberlehrern an sich vorüberziehen. Er wartete auf Änna.
Was würde sie sehen? Die gleichen Dinge wie er oder etwas ganz anderes? Sah sie die Eisenkugel an ihrem eigenen Fuß? Sah sie die geschlossenen Augen ihrer Eltern? Und würde sie mit ihm zusammen zurück zu der alten Fabrikhalle fahren? Es war ein Risiko, aber er musste mit ihr sprechen. Bald.
Doch Änna kam nicht. Jetzt, verflucht, wo Frederic sie brauchte, kam sie nicht!
Schließlich gab er das Warten auf und ging hinein. Was, wenn ihr etwas passiert war?
Die Gänge von St. Isaac erschienen ihm an diesem Tag noch kälter und leerer als sonst, das Linoleum noch sauberer, das Lachen der anderen noch hohler. Die Ziesel begann den Tag mit einem fröhlichen Lächeln, falsch wie eine umgefärbte Katze. Heiter summend teilte sie Blätter aus. Blätter? Verdammt.
Er hatte gewusst, dass sie eine Arbeit schreiben würden. Aber er hatte es komplett verdrängt. So sah Frederic sich in einem völlig unerwarteten Krieg mit Zahlen, Ixen und Ypsilons. Er versuchte nicht einmal abzuschreiben. Er stöhnte und rechnete, rechnete und stöhnte, ohne zu wissen, welche Formeln er anwenden musste oder wie er die Angabentexte in Ziffern übersetzen sollte. Einmal hob er den Blick vom Papier und merkte, dass die Ziesel die Bewegungen seiner Hand mit
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