Nacht der gefangenen Träume
ungewöhnlicher Aufmerksamkeit verfolgte.
Was hatte die Ziesel unter der Erde getan, bei der alten Fabrikhalle? War es wirklich ihre Stimme gewesen, die er im Qualm gehört hatte?
Er gab die Arbeit vor allen anderen ab. Es hatte keinen Sinn.
Er würde Hendrik wieder einiges erklären müssen.
Als er zurück zu seinem Platz ging, starrte Ännas leerer Stuhl in der letzten Reihe ihn an. Und auf einmal fühlte er sich allein auf einer einsamen Insel, allein in einem Ozean, allein auf einem kargen Planeten, wo das Leben sich noch nicht erfunden hatte. Mitten zwischen all den Schülern, in dem mit Menschen vollgestopften Gebäude von St. Isaac, packte ihn die Einsamkeit kalt wie Eis. Früher war er auch allein gewesen und er hatte kein Problem damit gehabt. Aber jetzt stand ein Satz in der Leere seines Alleinseins: Hauptsache , hatte Änna gesagt, ich war da .
Ja, wo war sie denn, wenn das die Hauptsache war? Bitte: wo?
In der Stunde vor der zweiten Pause mühte sich Kahlhorst mit der Fortsetzung der Sumpfmücken ab.
»Von der Zie… von der Frau Ziesel soll ich euch schön grüßen«, sagte er und aß gedankenverloren einen Radiergummi, der auf dem Pult herumgelegen hatte. Außer Frederic merkte es mal wieder niemand. »Sie sitzt seit zwei Stunden im Lehrerzimmer und korrigiert eure Arbeiten. War wohl schwierig? Der Notendurchschnitt ist nicht so glorreich, sagt sie. Na ja.«
»Das liegt nur an einem«, hörte Frederic Josephine zischen. Er brauchte sich nicht umzudrehen und zu fragen, an wem.
»Irgendwie ist der Notendurchschnitt dieser Klasse in allen möglichen Fächern unter dem der anderen Klassen«, fuhr Kahlhorst fort. »Na, mir ist euer Notenschnitt ja egal. Ehrlich gesagt, mir ist auch die Sumpfmücke egal.« Er seufzte. »Aber wir müssen sie durchnehmen. Also, kann sich jemand erinnern, wo und wann die blöde Sumpfmücke ihre Eier ablegt?«
Das Zischen hinter Frederic war erloschen wie eine Flamme, aber er spürte ihr Glühen noch hinter sich. Die Flamme wartete in feindseliger Stille auf eine bessere Gelegenheit. Als er sich schließlich doch umdrehte, sah er, dass Josephine, die niemals Briefe schrieb, Briefe schrieb. Er beobachtete, wie sie sie verteilte, unauffällig, diskret. Und er sah, wie sie Seitenblicke in seine Richtung warf. Sie hatte etwas vor. Er versaute den Notendurchschnitt ihrer Klasse, und sie würde sich das nicht gefallen lassen. Er hatte Angst vor ihr, vor ihr und ihren Erdbeerpuddingträumen. Ja. Frederic hatte Angst. Plötzlich fühlte er sich wie eine Sumpfmücke auf einem Streifen Fliegenklebeband. Gefangen. Gefesselt. Er hob die Hand.
»Frederic?«, fragte Kahlhorst. »Du wolltest etwas sagen?«
Er schien verwundert darüber, nicht auf eine unfreundliche Art: einfach nur verwundert.
»Mir ist … nicht gut«, sagte Frederic. »Kann ich mal eben raus?«
Kahlhorst musterte ihn unsicher. »Ja, äh … möchtest du, dass jemand mitgeht?«
»Danke, nein.« Frederic stand auf und bemühte sich, so auszusehen, als müsste er sich gleich übergeben. Es fiel ihm nicht wirklich schwer, wenn er an Josephine dachte. Er wankte zur Tür (nicht übertreiben!), schloss sie gleich darauf hinter sich und floh. Er musste eine Minute ungestört nachdenken. Ohne Josephines Blicke. Ohne die Eier ablegende Sumpfmücke. Nur eine Minute, dann würde er ins Klassenzimmer zurückkehren.
Doch es kam anders.
Sein Blick fiel aus dem Flurfenster hinab in den Hof, und dort unten am Tor stand HD Bruhns und wartete wieder einmal aktiv. Er wippte auf seinen Schuhen, spähte die Straße entlang.
»Aa-ha«, sagte Frederic zu sich selbst. Und änderte seinen Plan.
Einen Moment später huschte er über den Schulhof wie ein Schatten und kletterte auf die Kastanie, ehe Bruhns ihn entdeckte. Die fünffingrigen Blätter verbargen ihn wie eine lauernde Katze. Er lauerte darauf, dass aus einem der Bäume an der Mauer ein alter Herr mit einem Gehstock steigen würde. Doch es kam kein alter Herr. Stattdessen kam ein Postbote.
Der Postbote – ein treuer Angestellter mit Namen Ulrich Mohnbiedl, einer Vorliebe für Braunbier und einer Briefmarkensammlung – ist unwichtig für diese Geschichte. Wichtig ist nur, dass er an einem Mittwoch um 11 Uhr und 21 Minuten eine Sondersendung zum Gymnasium St. Isaac brachte. Er wunderte sich ein wenig, dass er beim Tor den Direktor traf, und verließ das Schulgelände wieder, ohne zu wissen, dass er soeben einen Gastauftritt in einem Roman gegeben hatte.
Frederic
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