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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Meter zurück. Frederic glitt zum untersten Ast hinab, sprang von da aus hinunter und wollte losrennen. Doch er hatte sich verrechnet. Natürlich. Seit er auf St. Isaac war, war er nicht mehr gut in Mathe.
    Er wusste später nicht, wer von ihnen zuerst zuschlug. Er spürte nur ihre Fäuste auf sich niederprasseln, schützte sein Gesicht mit den Armen, kämpfte um sein Gleichgewicht … und verlor es. Der Asphalt des Schulhofs riss sein linkes Knie auf. Er spürte es kaum. Er versuchte, sich wieder aufzurappeln, doch sechs Arme drückten ihn zu Boden, und sechs Füße traten abwechselnd nach ihm. Frederic rollte zur Seite.
    »Jetzt siehst du, wie es einem geht, der sich gegen uns stellt!«, hörte er Josephine zischen. Doch ihre Worte waren verwaschen und weit fort. Eine Wolke aus künstlichem Erdbeeraroma hüllte Frederic ein und ihm wurde übel. Eine Schuhspitze landete in seinem Magen, er schloss die Augen, fühlte, wie etwas sein Gesicht traf, und schmeckte Blut.
    »Das … das könnt ihr nicht machen«, keuchte er. »Ihr könnt nicht einfach so …«
    Aber sie konnten.
    Und sie konnten es gut. Der starke Georg drehte ihm die Arme auf den Rücken und Josephines Finger fanden sein Gesicht. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass sie biss. Vielleicht wollte sie ihn nur kratzen. Ihre Finger krabbelten hin und her und hinterließen kleine Bisswunden auf seinen Wangen wie Fußspuren. Frederic wand sich und trat um sich, doch es half nichts. Einmal traf sein Blick den des starken Georgs und er sah das Erschrecken in Georgs Augen: das Erschrecken darüber, was er da tat. Doch der starke Georg ließ ihn nicht los. Er gehorchte Josephine.
    Sie nahm ihre Finger aus seinem Gesicht. Es hagelte wieder Tritte – und schließlich hörte Frederic auf, sich zu wehren, und lag ganz still. In seinen Ohren war ein Geräusch, das vorher nicht da gewesen war. Er hielt die Augen geschlossen. Jemand kniete sich über ihn und flüsterte. Es war Josephine, wer sonst: »Schlaf gut, lieber Frederic. Und träum schön. Denk an uns, wenn du träumst.«
    Dann sauste etwas auf seinen Kopf nieder: eine Faust aus Eisen – und er tauchte weg.
    Änna hatte den Termin ganz vergessen.
    Am liebsten wäre sie nicht hingegangen. Doch natürlich ging sie. Ihre Mutter fuhr sie.
    »Hoffentlich findet dieser hier heraus, was los ist«, sagte sie.
    Dieser hier war der Orthopäde Bernd Schmidt – er hätte genauso gut Max Meier heißen können – und er hätte genauso gut Gießkannenfabrikant sein können oder Hundefriseur. Selbstverständlich würde er nichts herausfinden. Bisher hatte keiner der Orthopäden gewusst, was mit Ännas Bein nicht stimmte.
    Aber sie wusste es. Seit gestern Abend. Gleich auf der Treppe vor Frederics Tür hatte sie es gesehen. An ihrem rechten Knöchel war eine Eisenkugel befestigt, gehalten von vier Kettengliedern und einem Ring. Änna fragte sich, woher die Eisenkette kam. Vermutlich war sie schon immer da gewesen.
    Sie erzählte dem Orthopäden nichts davon. Er hätte ihr sowieso nicht geglaubt. Erwachsene, das hatte sie oft genug erfahren, glaubten ihr nie etwas. Vielleicht lag es an ihr. Vielleicht war sie zu ungeschickt – nicht nur, wenn sie sich bewegte: auch, wenn sie zu ihnen sprach. Sie ließ die Untersuchungen über sich ergehen, lächelte höflich und stieg wieder ins Auto.
    »Ich fahre dich nach Hause«, sagte ihre Mutter. »Du bist für heute von der Schule entschuldigt.«
    Doch Änna schüttelte den Kopf. »Bitte, fahr mich zu St. Isaac. Zwei Stunden kriege ich noch mit.«
    »Du bist so fleißig«, murmelte ihre Mutter. »So eine fleißige Tochter haben wir …«
    Aber Änna wusste, dass sie nicht fleißig war. Sie kam sich schäbig vor, ihre Mutter in dem Glauben zu lassen, sie wäre es.
    Sie wollte nicht wegen des Unterrichts zu St. Isaac. Sie wollte wegen Frederic hin. Frederic, der alles sah außer gewisse Dinge über sich selbst … Sie hatte das seltsame Gefühl, etwas wäre nicht in Ordnung. Sie musste ihn sehen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war .
    Aber als sie den Hof von St. Isaac betrat, sah sie, dass nichts in Ordnung war. Sie kam zu spät.
    Jemand ist da, über ihm. Eine Stimme. Gott, diese Situation hatten wir doch neulich schon einmal. Wird das jetzt zur schlechten Angewohnheit? Neulich ist Hendrik da gewesen, als er aufgewacht ist. Jetzt ist es nicht Hendrik. Die Stimme gehört jemand anders. Sie will wissen, was passiert ist. Frederic kann es ihr nicht sagen. Er weiß es

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