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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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nicht. Nur an das braune Paket kann er sich erinnern. Es ist wichtig.
    »Das … Paket«, flüstert er. »Noch drei davon, hat er gesagt … dann kommt die letzte Nacht der Träume … Josephine … Bruhns … du musst … das Paket finden!«
    Aber mit wem spricht er überhaupt?
    Eine Hand taucht in seine Träume wie durch eine zähe, gummiartige Schicht, und er fühlt die Wärme dieser Hand auf seiner Stirn. Doch da ist etwas zwischen der Hand und seiner eigenen Haut. Etwas wie – eine Barriere. Zum ersten Mal fällt ihm auf, dass er die Wärme der Hand viel näher spüren müsste. Und er erinnert sich, dass er vor sehr, sehr, sehr langer Zeit die Dinge näher gespürt hat.
    »Frederic«, sagt die Stimme über ihm. Er öffnet die Augen mühsam unter zementschweren Lidern und lächelt.
    »Änna?«
    Sie war noch nie so böse auf ihr rechtes Bein gewesen. Wäre sie nur schneller durch das Tor gekommen! Frederic lag auf dem Boden, unter der Kastanie, reglos. Er lag auf der Seite, gekrümmt, wie die toten Tiere auf der Autobahn. Änna kniete sich neben ihn, drehte ihn auf den Rücken, atmete auf: Er hatte die Augen geschlossen, doch sein Brustkorb hob und senkte sich, langsam, regelmäßig. Unter seiner Nase hatte sich eine Kruste aus getrocknetem Blut gebildet, und Dutzende winziger roter Bisswunden zierten sein Gesicht. Die Bisswunden waren wie eine Handschrift. Obwohl von einigen der roten Zahnkreise nur Stücke zu sehen waren, als hätte etwas Unerwartetes sie abgewehrt.
    Frederic murmelte etwas: »Josephine … Bruhns …«
    Tränen der Wut standen hinter Ännas Augen. Doch sie konnte jetzt keine Tränen brauchen. Sie musste etwas tun. Sie musste ihn hier wegschaffen. Verdammt, waren sie auf einem Schulhof oder im Krieg? Sie musste jemanden holen, jemand Erwachsenen. Sie stand auf und zerrte die Kugel an ihrem Bein auf den Eingang von St. Isaac zu. Die Gänge erstreckten sich an diesem Tag ins Endlose, wuchsen und dehnten sich … Auch die Treppe in den ersten Stock schien endlos. Die Tür zum Lehrerzimmer quietschte. Änna sah sich vorsichtig um. Es war niemand da. Ihr Finger wanderte über den Plan, der die Lehrer auf Unterrichtsräume verteilte, und gleich darauf befand sie sich auf dem Weg in den Keller, steile, schmale, beinahe unüberwindliche Stufen hinunter.
    Dort unten hatte Frederic ihr ihre Träume zurückgegeben. Dort unten war das gelbe Federblumenfeld an den Wänden emporgeschwappt wie ein Meer, und sie hatten mitten darin gestanden.
    Sie erreichte den Werkraum, vergaß zum ersten Mal in ihrem Leben zu klopfen und stieß die schwere graue Feuersicherheitstür auf.
    »Herr … Kahlhorst!«, rief sie keuchend. »Ich bin zu spät gekommen! Im Hof! Er …«
    »Änna!«, sagte Kahlhorst.
    Gleich darauf zwängte er seinen ausladenden Bauch zwischen Ton und Tischen hindurch auf Änna zu und strich sich verwundert über die Stirn, wobei er eine Spur aus feuchtem Tonmatsch hinterließ. Über seine Schultern ragten sonnengelbe Flügelspitzen.
    Da erst wurde Änna bewusst, dass die gesamte Klasse sie anstarrte. Und auf einmal war es ihr, als würde sie unter all diesen Blicken selbst zu biegsamem Tonmatsch. Als würde sie in sich zusammensacken und ihre Form verlieren. Sie war noch nie einfach in irgendeine Unterrichtsstunde geplatzt. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre geflohen.
    »Änna!«, wiederholte Kahlhorst. »Was ist passiert?«
    »Alles«, flüsterte Änna.
    Später lag Frederic voller Pflaster auf einem großen, weichen Bett und hielt die Augen geschlossen. Das Bett gehörte Lisa, und die Augen hielt er geschlossen, weil die Lider angeschwollen waren. Er besaß vermutlich zwei hübsche Veilchen, Spuren von seiner Begegnung mit Georgs Fäusten. Als er einmal kurz blinzelte, sah Frederic über sich eine hässliche Lampe mit einem Schirm aus gläsernen Rüschen. Lisa hatte rote und blaue Streifen daraufgemalt, um die Lampe etwas zu enthässlichen. Aber es war nicht gelungen. Jetzt war sie hässlich und hatte Streifen. Immerhin, dachte Frederic. Er hatte Glück, dass er nicht unter einem weißen Lampenschirm in einem weißen Zimmer lag. Kahlhorst hatte ihn zur Ambulanz des Krankenhauses gefahren, und sie hatten ihn eigentlich dabehalten wollen, um ihn noch ein wenig zu überwachen. Zur Sicherheit. Frederic hatte sich geweigert, und Kahlhorst hatte eingesehen, dass der sicherste Ort für einen Jungen mit zwei Veilchen wohl die eigene Wohnung war, wo sein Vater ihn überwachen konnte.

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