Nacht der Geister
einer menschlichen Existenz. Aber zugleich hatte sie eine Freiheit gefunden, die sie in ihrer natürlichen Gestalt nie gekannt hatte die Freiheit, in der Welt der Lebenden zu handeln und sich das Chaos selbst zu schaffen. Jetzt steckte sie wiederum in einer anderen Form, etwas zwischen Mensch und Dämon einem Geist.
Eine Kutsche schwenkte in ihre Richtung. Sie streckte eine Hand aus, und ihre Finger krümmten sich zu Klauen, um eine Handvoll Fleisch herauszureißen, wenn das Pferd vorbeitrabte.
Aber das Tier rannte durch ihre Hand hindurch, ohne auch nur angstvoll mit den Augen zu rollen. Sie zischte wütend, als es sich die Straße entlang entfernte. Selbst ein menschlicher Geist sollte in der Lage sein, ein Pferd zu erschrecken. Früher einmal hätte ihre bloße Anwesenheit genügt, um dem Tier solche Angst zu machen, dass es alles in seiner Nähe niedergetrampelt hätte. Sie schloss die Augen und versuchte sich das Chaos vorzustellen, das sie hätte schaffen können. Und jetzt?
War sie nach zweihundert Jahren der Verdammnis entkommen, nur um zu winseln und zu beklagen, was sie verloren hatte?
Nein, es musste eine Möglichkeit geben es gab immer eine Möglichkeit.
Die Nixe tat ein paar Schritte die Straße entlang, prüfte die Menschen, die ihr begegneten, und kostete ihre Gedanken. Die Männer waren ihr verschlossen. Das hatte sie schon kurz nach ihrer Flucht festgestellt. Nachdem sie in der Gestalt einer Frau gestorben war, waren ihre Kräfte jetzt auf dieses Geschlecht beschränkt.
Ihr Blick glitt von Gesicht zu Gesicht auf der Suche nach den richtigen Anzeichen, forschte erst in den Augen, dann im Geist dahinter. Manchmal stießen Menschen auf einen Augenblick von solcher Bedeutung, dass ihre trüben Hirne ihn nicht erfassen konnten, und dann nahmen sie dieses Körnchen Wahrheit und warfen es in den Müll, aus dem es die Sänger und Dichter wieder herausklaubten und zu jaulenden Oden an die Liebe verbrieten. Die Augen waren wahrhaftig die Fenster der Seele. Klare Augen, und sie ging ohne einen zweiten Blick weiter.
Ein paar Wolkenstreifen hinter einem Blick, und gelegentlich zögerte sie, aber meist tat sie es nicht. Stürme waren, was sie suchte die finsteren Gewitterwolken einer sturmgepeitschten Seele.
Sie hatte die Straße zur Hälfte hinter sich gebracht und außer ein, zwei Regenwolken nichts gefunden. Dann musste sie vor einer Frau innehalten, die den Blick gesenkt hatte. Die Frau war Ende zwanzig und hatte ein breites, unscheinbares Gesicht; sie wartete auf dem Gehweg vor einem Geschäft. Ein Mann kam aus dem Laden, dunkel und wettergegerbt, gekleidet wie ein Arbeiter. Als er die Frau entdeckte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
»Miz Borden«, sagte er, während er sich an den Hut tippte.
»Wie geht es Ihnen?«
Die Frau sah mit einem scheuen Lächeln auf. »Sehr gut, danke. Und Ihnen?«
Bevor er antworten konnte, kam ein großer Mann mit weißem Backenbart mit langen Schritten aus dem Laden, seine Augen blitzten. Er packte die Frau am Arm und zog sie auf die Straße hinaus, ohne dem anderen Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen.
»Was machst du da?«, zischte er.
»Ich habe nur gegrüßt, Vater. Mr. O’Neil hat guten Tag gesagt, und ich «
»Es ist mir gleich, was er getan hat. Er ist Landarbeiter. Nicht gut genug für jemanden wie dich.«
Welcher Mann ist gut genug für mich, Vater? Keiner, wenn das bedeuten würde, dass du und sie ein weiteres Dienstmädchen einstellen müsstet, um mich zu ersetzen.
Der Gedanke lief auf einer Welle der Wut durch den Geist der Frau, aber nur ein winziges Lippenstraffen verriet ihn nach außen hin.
Als die Frau den Blick weit genug hob, sah die Nixe in Augen, die vor Hass fast schwarz waren. Sie lachte in sich hinein. Diese Frau wünschte ihrem Vater also den Tod . . . genau wie damals MarieMadeline. Was für ein verheißungsvoller Auftakt für dieses neue Leben.
Die Nixe streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über die bleiche Wange der Frau. Hättest du gern, dass ich dir die Freiheit gebe, Liebes? Es wird mir ein Vergnügen sein.
6
E in Erdspuker also. Ich hatte die Bezeichnung noch nie gehört, aber ihre Bedeutung war mir klar. Wenn wir sterben, gehen die meisten von uns ins Jenseits, aber ein paar bleiben zurück. Manche sind das, was der kopflose Geist zu sein behauptete Seelen, die noch etwas zu erledigen haben und deshalb nicht fortkönnen. Nur, dass sie in Wirklichkeit durchaus fortkönnten. Wie die weinende Frau in Savannahs
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