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Nacht der Geister

Nacht der Geister

Titel: Nacht der Geister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Funktion, vielleicht auch eine Juristin, vielleicht sogar die Gemeinderätin, in deren Haus ich mich befand. In ihrer Haltung und ihren Gesten zeigte sich die Selbstsicherheit einer Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hatte und sich dort wohl fühlte. Aber als ich sie so weit umkreist hatte, dass ich ihr Gesicht sehen konnte, erzählten ihre Züge eine andere Geschichte. Tief eingegrabene Linien ließen mich ihr Alter augenblicklich um zehn Jahre nach oben korrigieren. Ihre Augen waren rot gerändert, aber trocken, das Gesicht angespannt, als bewahrte sie mit Mühe die Fassung.
    »Nein, ich verstehe vollkommen«, sagte Jaime gerade. »Bitte glauben Sie mir, es geht hier nicht um «
    »Ist es das Geld? Geld ist nicht das Problem, Jaime. Ich habe das schon einmal gesagt, und ich habe es «
    »Es geht auch nicht um Geld.«
    Die Finger der Frau schlossen sich fester um eine schmutzige Serviette. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht kränken «
    »Das haben Sie auch nicht. Aber ich kann Ihnen nicht helfen.
    Wirklich nicht. Wenn ich Ihre Tochter finden könnte «
    »Es ist nicht nötig, dass Sie sie finden. Sagen Sie mir einfach, ob sie dort ist. Auf der anderen Seite. Ich muss einfach . . . Es ist so lange her. Ich muss es wissen.«
    Jaime riss den Blick vom Gesicht der anderen Frau los. »Sie brauchen Klarheit. Ich verstehe das. Aber so funktioniert es nicht.«
    »Wir könnten es versuchen. Es kann doch nichts schaden, es zu versuchen, oder?«
    »Wenn es Ihnen falsche Hoffnungen macht, dann schon. Es
    es tut mir leid. Ich muss «
    Sie murmelte etwas und stürzte davon. Ich folgte ihr durchs Nebenzimmer und zur Hintertür hinaus. Sie rannte an den Leuten vorbei, die auf der Veranda standen, in den Garten hinunter und blieb erst stehen, als sie den Zaun erreichte und nicht weitergehen konnte. Dann lehnte sie sich schaudernd gegen die Holzlatten.
    »Das muss grässlich gewesen sein«, sagte ich.
    Ihr Kopf fuhr hoch; dann sah sie mich. Ich ging näher heran.

    »Du weißt, dass du ihr nicht helfen kannst. Ich weiß, dass du ihr nicht helfen kannst. Aber nichts, was du sagst, wird sie überzeugen. Du hast wirklich getan, was du konntest.«
    Jaime legte die Arme eng um die Brust und antwortete nicht.
    »Ich hab übrigens deinen kopflosen Stalker erwischt«, sagte ich. »Wenn er je wieder auftaucht, sag mir Bescheid, aber ich glaube es nicht.«
    Sie nickte und zitterte dabei so sehr, dass ich ihre Zähne klappern hörte.
    »Willst du nicht lieber wieder ins Warme gehen?«, fragte ich.
    »Nicht die Kälte. Einfach . . . « Sie schüttelte den Kopf, dann ihren ganzen Körper und richtete sich auf. »Danke für die Unterstützung. Mit dem Stalker. Du hast was gut bei mir.«
    »Und ich bin mir sicher, du wirst es mir sehr bald zurückzahlen können. Ich weiß noch nicht genau, was ich brauchen werde und wann, aber wir sollten etwas vereinbaren, damit ich dich finden kann, wenn es sein muss.«
    Sie stimmte zu. Die Parzen ließen mir eben genug Zeit, die Details auszumachen, bevor sie mich von den Suchern zurückholen ließen.
    Die Sucher setzten mich in einem Foyer von der Größe eines Schulsportplatzes ab. Es bestand aus weißem Marmor wie der Thronsaal, war aber weder dekoriert noch möbliert ein Ort, den man auf dem Weg woandershin durchquerte.
    Gerade jetzt waren eine Menge Leute dort unterwegs. Geisterhafte Schreiber zum Beispiel, deren Aufgabe es ist, unsere Welt am Laufen zu halten. Diese Schreiber sind reine Geister, Wesen, die die Welt der Lebenden niemals betreten haben, und sie ähneln den klassischen Gespenstern sehr viel mehr, als wir es tun. Alles an ihnen ist weiß. Selbst ihre Augen sind von einem so hellen Blau, dass man die Farbe nur im Kontrast zu den weißen Augäpfeln bemerkt. Ihre Kleidung und ihre Haut sind fast durchsichtig. Wenn sie vor einem Gegenstand vorbeigehen, sieht man ihn als dunklen Schatten durch sie hindurch.
    Die Schreiber können nicht sprechen. Können es nicht oder tun es einfach nicht das weiß niemand. Sie können telepathisch kommunizieren, sprechen aber niemals auch nur eine Silbe, wenn eine Geste ausreicht.
    Als ich durch das Foyer ging, glitten Schreiber an mir vorbei; ihre bleichen Füße huschten über den Fußboden. Manche lächelten oder nickten mir zu, aber keiner blieb stehen; alle waren mit ihren Aufgaben beschäftigt.
    Von der Mitte des Raums aus dachte ich über meine Möglichkeiten nach. Es gab viel zu viele davon: mindestens ein Dutzend Türöffnungen und dazu in jeder

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