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Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Titel: Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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und nicht umgekehrt, wie es eigentlich vorgeschrieben war.
    «Ich würde vorsichtig sein, Commissario!», sagte einer der Polizisten. «Bei solchen Kerlen weiß man nie, wann sie durchdrehen. Wir lehnen die Tür an und bleiben in der Nähe!»
    Guerrini presste die Lippen zusammen und nickte. Er war zu müde, um sich auf eine Diskussion über Vorurteile gegenüber geistig Behinderten einzulassen. Langsam trat er in die Zelle ein, lehnte sich neben der Tür an die Wand und schob die Hände in die Hosentaschen.
    Giuseppe hockte in der Ecke, rechts vom vergitterten Fenster. Er schützte seinen Kopf mit beiden Händen, und Guerrini konnte nur einen runden Rücken und ineinander verschlungene Finger erkennen. Eine leise gesummte Melodie erfüllte den Raum – eine Melodie, die an eine Tarantella erinnerte.
    Seltsam, dachte Guerrini, dieser Tag besteht vor allem aus Verständigungsschwierigkeiten. Was hatte diese  Deutsche gesagt? «Ich kann es nicht einmal auf Deutsch erklären …» Das hatte Guerrini verstanden, nicht nur den Worten nach. Auch den Sinn dahinter. Und jetzt stand er vor diesem verwirrten Jungen, der vermutlich gar nichts erklären oder begreifen konnte.
    Guerrini setzte sich auf das schmale Bett, schloss die Augen, und nach einer Weile begann er ebenfalls zu summen. Er versuchte die Melodie aufzunehmen, die von dem Häuflein Mensch in der Ecke ausging, und nach einigen Minuten gelang es ihm. So füllten sie beide den kleinen Raum mit einer wehmütigen Tarantella, wurden allmählich lauter, steigerten das Tempo, bis Guerrini eine Bewegung zu spüren glaubte und die Augen öffnete.
    Giuseppe hatte sich halb umgedreht und starrte den Commissario an, aber er hielt die Hand vor sein Gesicht und lugte nur zwischen den gespreizten Fingern hervor, summte nicht mehr. Guerrini ließ die Melodie sanft ausklingen und verstummte dann ebenfalls.
    «Ciao, Giuseppe», sagte er leise.
    Der Junge reagierte nicht, starrte ins Leere.
    «Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand wird dir etwas zuleide tun, Giuseppe. Du darfst sicher bald nach Hause.»
    Guerrini lauschte seinen eigenen Worten nach und dachte: Mein Gott, ich bin ganz sprachlos. Wie soll ich nur mit dem Jungen über diese Geschichte reden. Vielleicht hat er eine ganz eigene Sprache, vielleicht kann er nur summen. Vielleicht kann er sich nicht mehr erinnern oder nur an einen Traum oder an bestimmte Bilder. Vielleicht erzähle ich ihm ein Märchen, fange ganz woanders an?
    Guerrini schaute Giuseppe nicht an, spürte aber dessen starren Blick beinahe körperlich auf seiner Haut. Eigentlich könnte er dem Untersuchungsrichter mitteilen, dass es nicht möglich sei, mit dem Häftling zu sprechen, und dann die Sache einem Psychologen überlassen. Er könnte nach Hause gehen und duschen, eine Flasche Weißwein aufmachen und sich auf die kleine Terrasse seiner Wohnung setzen, über die Dächer von Siena schauen und nachdenken. Aber er wusste genau, das er die ganze Nacht an diesen Jungen denken würde, der in einer Zelle saß und vermutlich Todesängste ausstand. Deshalb blieb Guerrini auf dem harten schmalen Bett sitzen, dessen Decken noch sorgfältig gefaltet und unberührt dalagen. Und er versuchte es einfach, ließ sich von seiner Müdigkeit und der Melodie leiten, die noch immer im Raum zu schwingen schien.
    «Stachelschweine sind komische Tiere», sagte er. «Ich kenne nur ganz wenige Menschen, die welche gesehen haben, obwohl sie da sind. Ich hab nie ein lebendiges gesehen, nur im Zoo. Ihre Stacheln hab ich gefunden. Sie sind wunderschön, diese Stacheln. Lang und dünn oder kurz und dick. Immer gestreift. Schwarz und weiß. Und manchmal hab ich sie gehört, die Stachelschweine. Sie schnaufen und quieken. Es klingt ein bisschen unheimlich. Mein Vater hat erzählt, dass sie wie Kinder weinen, wenn sie sich fürchten oder von Jägern verfolgt werden. Stimmt das?»
    Giuseppe machte eine winzige Bewegung, die Guerrini aus den Augenwinkeln wahrnahm. Die Hand des Jungen rutschte langsam nach unten und gab das Gesicht frei. Guerrini schaute auf seine Schuhe. Ein dürrer Grashalm steckte zwischen Sohle und Oberleder.
    «Bei dir in der Gegend gibt es doch sicher viele Stachelschweine, deshalb frage ich dich.»
    Giuseppe antwortete nicht, fing nur an, sanft hin- und herzuwiegen. Guerrini wartete. Es dauerte lange, ehe etwas geschah. Das Schaukeln wurde heftiger, und plötzlich stieß Giuseppe leise Schnieflaute aus, die sich zu einem jämmerlichen Pfeifen steigerten.

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