Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Essen, das ihm täglich von einem Altenservice geschickt wurde.
«Der Fisch ist vor mindestens einer Woche im Canal Grande verendet! Die Kartoffeln sind Matsch, und der Salat taugt für Schweine!»
«Wieso Canal Grande?», hatte Laura gefragt.
«Weil es in der Isar solche Fische nicht gibt!» Dann hatte Vater erst gelacht und plötzlich geweint. Laura weinte mit ihm, denn sie dachte an die wunderbaren Gerichte, die ihre italienische Mutter stets auf den Tisch gebracht hatte, und an ihre Begeisterung beim Erfinden immer neuer Rezepte. Und sie verfluchte ihren Job, der ihr viel zu selten Zeit ließ, ihrem Alten Herrn etwas Besonderes zu kochen.
Er kann nicht mehr lange allein leben, dachte sie jetzt. Ich muss ihn zu mir nehmen. Mama würde mir nie verzeihen, wenn ich Vater in ein Heim stecken würde, ihn, den angesehenen Rechtsanwalt, auf den sie immer so stolz gewesen war. Ich habe ihr versprochen, dass ich mich um ihn kümmern werde. Aber wie soll ich das bloß schaffen?
Fluchtgedanken. Laura wehrte sich dagegen. Der Anruf ihres Chefs drängte sich zwischen die Sorgen um ihren alten Vater. Sie wollte nicht an diesen Anruf denken! Was würde es schon sein – eine neue Leiche vermutlich? Ihr Bedarf für diesen Tag war gedeckt. Sie würde später noch ein wenig an Sofias Bett sitzen und mit ihr reden. Vielleicht auch mit Luca, wenn er dazu aufgelegt war. Und dann selbst zu Bett gehen, mit einem Buch und einer Tasse Pfefferminztee. Mit dem Roman einer Neuseeländerin, den sie vor Wochen angefangen hatte. Das Buch machte sie neugierig, weil es in eine befremdliche Innenwelt führte, die Welt einer Frau, die in einem Turm am Strand wohnte, umgeben von Tang, Sandbänken, Muscheln und einem hohen Himmel. Ganz allein. Sie überlegte, wie es wäre, allein in einem Turm in einem fernen Land zu leben. Im Morgengrauen Fische zu fangen und nur für sich selbst sorgen zu müssen. Die Zigarette des Nachbarn glimmte wieder auf, und weiter unten klapperten Töpfe. Hinter sich hörte sie die leisen Stimmen von Luca und Sofia.
Nein, Laura wollte nicht allein in einem Turm wohnen. Nur manchmal. Aber dann auf jeden Fall an einem Strand. Sie lächelte über sich selbst. Dann drängte sich wieder der Anruf ihres Chefs zwischen den Knoblauchduft, das Rauschen des Meeres, das sie sich eben sehr deutlich vorgestellt hatte, und die Stimmen ihrer Kinder. Und sie wusste, dass sie in ein paar Minuten aufstehen und zum Telefon gehen würde. Aber sie würde es heimlich machen, um Luca und Sofia nicht zu beunruhigen.
Sie lehnte sich zurück und wartete noch ein paar Minuten, fragte sich, warum sie zurückrufen wollte. Aus Pflichtbewusstsein? So, wie sie ihren Vater stets anrief, wenn er nach ihr verlangte? Oder war es etwas ganz anderes? Diese Neugier, die ihr ganzes Leben bestimmte, diese merkwürdige Abenteuerlust, die ihre Mutter schier zur Verzweiflung getrieben hatte? Laura kannte sich inzwischen ganz gut, immerhin seit vierundvierzig Jahren. Ihr Jurastudium hatte sie abgebrochen, weil es sie langweilte, und war zur Polizei gegangen, obwohl ihre Eltern heftig dagegen gekämpft hatten. Die Mutter aus Angst um ihre Tochter, der Vater, weil er ihr seine Anwaltskanzlei hinterlassen wollte.
Mit einem Seufzer löste Laura sich aus der Dunkelheit und trat wieder in die Küche. Das schnurlose Telefon lag auf der Anrichte. Sie schloss leise die Tür zum Flur und tippte die Privatnummer ihres Vorgesetzten, zögerte noch einmal kurz, drückte dann aber entschlossen die Verbindungstaste. Es klingelte dreimal, ehe abgenommen wurde. Kriminaloberrat Becker meldete sich selbst. Wieder zögerte Laura.
«Wer ist denn da?», fragte Becker ärgerlich.
«Hier ist Laura Gottberg. Was gibt’s?»
«Es ist ja wirklich nett, dass Sie anrufen, Laura! Ich dachte schon, Sie hätten genug vom Polizeidienst!»
«Ich wollte zur Abwechslung für ein paar Stunden nicht gestört werden!»
«Neuer Freund?» Becker lachte unangenehm.
«Alte Freunde. Meine Kinder!», antwortete Laura kühl. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nie mehr über Becker aufzuregen. Es gab ihn, er war nicht veränderbar: geltungssüchtig, rücksichtslos, ehrgeizig und ganz selten und ganz überraschend hilfsbereit und solidarisch. Sie hasste es, dass er sie beim Vornamen nannte. Doch das machte er bei allen Frauen, die mit ihm arbeiten mussten. Männer nannte er beim Nachnamen – ohne Dienstgrad. Immerhin blieb er beim «Sie».
«Na gut! Obwohl ich erwarte, dass meine Mitarbeiter immer
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