Nacht der Versuchung
man alles!«
»Das Mädchen muß sofort in ein Krankenhaus«, sagte der Arzt, als die Lunge wieder atmete und etwas Farbe über die blasse Haut schimmerte. »Das Wasser ist hier verdammt dreckig und voll Öl, und eine Lungenentzündung ist immer drin bei solch einer Dummheit.« Er sah auf das schmale, engelhafte Gesicht mit den blonden Haaren. Warum bloß, dachte er, gehen solche Mädchen ins Wasser? Warum werfen sie ihr Leben einfach weg? Aus Feigheit? Aus Angst? Aus Verzweiflung? Ist das denn alles ein Grund? Warum gehen diese jungen, blühenden Menschen so leichtsinnig mit ihrem Leben um? Verstehen sie noch nicht, wie wertvoll ein Leben ist? »Haben Sie den Namen der jungen Dame?«
»Nein. Gar nichts. Wir müssen sie ins Hafenkrankenhaus einliefern. Dort haben wir schon mehrere namenlos Gelandete hingebracht.« Der Hauptwachtmeister setzte sich neben den Tisch und schrieb die Meldung in Stichworten in sein Notizbuch. Einer der Polizisten telefonierte bereits mit dem Hafenkrankenhaus und forderte einen Krankenwagen an.
»Wie alt wird sie sein, Doktor? Ich brauche das für die Meldung.«
»Ungefähr zwanzig.«
»Besondere Merkmale?«
»Eine gut verheilte Blinddarmnarbe.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
Einer der Polizisten zog eine Decke über den nackten Körper. Hein Focke hatte sie aus dem Lager geholt. Bis zum Eintreffen des Krankenwagens nahm der Hauptwachtmeister noch das Protokoll auf. Aussage des Lagerarbeiters Hein Focke. Erster Bericht der herbeigerufenen praktischen Arztes Dr. Volker Henrichs. Vorgelesen und unterschrieben.
Aus Margit Bernhardt war ein Fall geworden. Eine aktenkundige Selbstentleibung, wie es juristisch so schön heißt.
»Ich fahre mit zum Krankenhaus«, sagte Dr. Henrichs, als der Wagen gekommen war und man Margit auf die Trage schnallte. »Vielleicht redet sie unterwegs, wenn ich ihr sage, daß sie ihr Leben, ihr zweites Leben, mir verdankt.«
»Und mir«, brummte Hein Focke. »Ich hab' se rausgezogen.«
»Dafür bekommen Sie auch eine Medaille«, lachte einer der Polizisten. »Vom Innensenator selbst.«
»'ne Pulle Rum wär mir lieber.«
»Auch die bekommen Sie. Keine Angst.«
Zehn Minuten später trugen die Sanitäter Margit Bernhardt in den Aufnahmeraum des Hafenkrankenhauses. Nebenan, im sogenannten Poli-OP, war alles zum Auspumpen des Magens vorbereitet. Ein Bett mit Sauerstoffanschluß war freigemacht worden.
»In einer Stunde hat sie alles vergessen«, sagte der diensthabende Arzt zu seinem Kollegen Dr. Henrichs. »So etwas kennen wir. Kurzschlußhandlung. Sie werden sehen: Nachher, wenn sie aufwacht und begreift, was sie getan hat, heult sie Rotz und Spucke. Es ist immer dasselbe.«
Der Schlauch zur Ausheberung des Magens wurde angereicht.
Die große Sehnsucht Margits, zu sterben und damit für immer zu vergessen, erfüllte sich nicht.
*
In dieser Nacht fühlte Baurat Bernhardt vielleicht zum erstenmal, daß Glück und Zufriedenheit kein Fundament sind, auf das ein menschliches Leben felsenfest gebaut werden kann. In sein geordnetes Beamtenleben, in dem es nie eine Entgleisung gegeben hatte, ja nicht einmal den Gedanken, daß so etwas überhaupt möglich sei, brach wie eine Sturmflut die panische Angst.
Es begann ganz harmlos.
Lisa Bernhardt klopfte an die Zimmertür ihrer Tochter. Sie vermißte das neueste Modejournal und suchte es da, wo es nur sein konnte: bei Margit. Sie war deshalb erstaunt, daß das Zimmer leer war, sah auf die Uhr an der Wand und schüttelte den Kopf.
»Sag mal, Hubs«, fragte sie später ihren Mann, »wollte Margit heute abend noch ausgehen?«
Hubert Bernhardt sah von seiner Abendzeitung auf. Er saß gemütlich in Pantoffeln und einer Hausjacke im Sessel, rauchte eine Zigarre und genoß den Abend. Er liebte diese stillen Stunden nach des Tages Lärm, sie gaben ihm einen seelischen Ausgleich und zeigten ihm, wofür man arbeitete. Oft spielte er auch mit seiner Frau Lisa Tarock oder Bridge oder eine Partie Schach, die er, der große Mathematiker, fast immer verlor. »Ich spiele mit dem Verstand«, sagte er dann zu seiner schönen Frau. »Du mit dem Gefühl. Man sieht – Gefühl ist mehr.«
»Ich wüßte nicht, daß Margit mir etwas gesagt hat«, antwortete Bernhardt. »Vielleicht ist sie ins Kino. Oder zu einer ihrer Freundinnen.« Er lächelte, als er Lisas nachdenkliches Gesicht sah und faltete die Zeitung zusammen. »Wir müssen uns daran gewöhnen, daß unsere Tochter ein erwachsener Mensch geworden ist, Lisa. So schwer das
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