Nacht der Versuchung
war ein Gitter, das den Bewohner dieses schönen Zimmers von der noch schöneren Außenwelt trennte.
Still, unbeweglich lag Margit in ihrem Bett und sah auf die weißen Gitterstäbe, über die der Glanz der Sonne flimmerte, als Professor Schwade zur ersten Visite eintrat. Er kam allein, selbst die Stationsschwester blieb vor der Tür.
»Guten Morgen, mein Fräulein!« sagte Professor Schwade burschikos, setzte sich auf die Bettkante und tätschelte die blassen Hände Margits. »Gut geschlafen? Wie fühlen wir uns denn?«
Margit schwieg. Sie wandte den Kopf zur Seite und starrte gegen die Wand. Man soll mich in Ruhe lassen, dachte sie. Dieses widerliche Schöntun, diese samtweichen Stimmen, diese neugierige Fürsorge. Ach, laßt mich doch in Ruhe! Ihr denkt alle, daß ich plötzlich übergeschnappt bin, daß ich Depressionen habe, daß irgendein Kurzschluß in meinem Hirn stattgefunden hat. Wie kann ich euch denn sagen, daß ich mich schäme … nichts als schäme … so grausam schäme. Daß ich mit dieser Scham nicht mehr leben kann. Bitte, fragt doch nicht weiter. Bitte, bitte!
Professor Schwade erhob sich von der Bettkante, ging zum Fenster, öffnete es weit und zeigte hinaus. Vogelgezwitscher drang ins Zimmer, der herbsüße Duft von vielen Rosen. In den Sonnenstrahlen tanzten Millionen Staubkörnchen wie silberne Mücken.
»Ein herrlicher Tag«, sagte Professor Schwade.
»Hinter Gittern!« Es waren die ersten Worte, die Margit bisher gesprochen hatte. Professor Schwade nickte. Der Eispanzer um das Herz war gebrochen. Mit dem ersten Wort regte sich wieder die Seele.
»Wenn Sie Lust haben, gehen wir nachher eine Stunde im Park spazieren. Wir werden in der Sonne sitzen, die Vögel füttern und Blumen für die Vase pflücken.«
»Die Beschäftigung einer Wahnsinnigen, nicht wahr?«
Professor Schwade kam zum Bett zurück. »Mein kleines Fräulein«, sagte er mit Betonung, »bisher haben Sie geschwiegen, und wir mußten warten, wozu Sie sich entwickeln. Mir scheint, daß Sie ganz vernünftig sind und endlich aufhören sollten, Ihre Umwelt mit Rätseln zu versorgen. Sie haben Zeit genug gehabt, über alles nachzudenken. Ich will gar nicht wissen, was gewesen ist, was es auf der Welt so Schreckliches gibt, daß man sein Leben wegwerfen will … das müssen Sie anderen erzählen. Ihren Eltern zum Beispiel. Ich will nur wissen: Würden Sie heute auch noch ins Wasser springen?«
»Nein«, sagte Margit fest. Sie sah Professor Schwade mit dunklen, entschlossenen Augen an. Um ihre Mundwinkel bildete sich eine steile Falte.
»Und warum nicht?«
»Weil es nichts mehr ändert.«
»Es gibt also doch ein ›es‹?«
Margit schloß die Augen. »Bitte, fragen Sie nicht weiter, Herr Professor.«
»Ihre Eltern wollen Sie sprechen. Und Herr Blankers. Sie warten nebenan.«
»Sie können kommen.« Margit faltete die Hände. Ihre Finger zitterten. »Was … was haben sie gesagt, Herr Professor?«
»Sie sind sehr besorgt. Auch Herr Blankers. Alle um Sie herum sind voll Liebe und Fürsorge. Sie haben keinen Grund, dies alles wegzuwerfen.«
»Ich weiß das, Herr Professor«, flüsterte Margit. »Es … es ist plötzlich über mich gekommen. Ich kann mich nicht mal erinnern, daß ich ins Wasser gefallen bin.«
Nach einem langen Blick auf das blasse, schmale Gesicht und die zuckenden Lippen verließ Professor Schwade das Zimmer. Auf dem Flur liefen Bernhardt und Blankers auf und ab und rauchten nervös. Lisa saß in einem Korbsessel am Fenster und umklammerte einen großen Strauß Gladiolen. Sie sprang auf, als Professor Schwade aus dem Zimmer kam, und auch die beiden Männer liefen auf ihn zu.
»Nun?« rief Bernhardt gepreßt. »Was ist, Herr Professor? Wie fühlt sie sich? Hat sie gesprochen? Ist sie ganz klar?«
»Völlig klar.« Professor Schwade hob die weißen Augenbrauen. »Sie will Sie sprechen.«
»Gott sei Dank!« stammelte Lisa.
»Nur bitte ich Sie, eins zu beachten: Fragen Sie nicht. Lassen Sie sie sprechen, erzählen Sie belanglose Dinge, umgehen Sie den ganzen Komplex der vergangenen Stunden. Wenn sie von selbst davon anfängt, ist es gut. Sonst: Über das Wetter reden, ihr eine Reise zur Erholung versprechen, kleine Alltagsdinge erzählen, alles unverbindlich. Ich glaube, daß wir nach dem Gespräch, das ich eben mit Ihrer Tochter hatte, das Dunkel etwas aufhellen können. Sie kann sich kaum an etwas erinnern, sagt sie. Es muß also eine manisch-depressive Situation eingetreten sein, ein psychischer
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