Nacht der Versuchung
für die Eltern ist: Man kann es nicht aufhalten. Eines Tages heiratet sie, geht aus dem Haus, lebt vielleicht irgendwo weit weg, schreibt jeden Monat einen Brief und kommt uns einmal im Jahr besuchen. Das ist nun eben das Los der Eltern. Selbst der kleinste Vogel fliegt mal aus dem Nest.«
»Damit hat es ja noch Zeit!« Lisa Bernhardt setzte sich ihrem Mann gegenüber. Ihre Hände strichen unruhig über die Polsterlehne des Sessels. »Bis heute hat mir Margit immer vorher gesagt, wenn sie wegging und wohin sie wollte. Ich finde das merkwürdig, Hubs.«
»Sie hat's vergessen, Liebste.« Bernhardt beugte sich vor und tätschelte seiner Frau die Wange. »Aber wenn es dich beruhigt, rufe ich nachher ihre Hauptfreundin Uschi an. Da wird sie sein.«
Um 23 Uhr, als die Kinos ihr Programm bestimmt beendet hatten und Margit noch nicht zurückgekommen war, wurde auch Hubert Bernhardt unruhig. Immer öfter sah er auf seine Armbanduhr, ließ seine Zigarre ausgehen und benutzte die Zeitung nur noch, um sein Gesicht vor Lisa zu verdecken. Zum Lesen hatte er keine Ruhe mehr.
»Ich rufe mal an«, sagte er, als der Zeiger auf halb zwölf rückte. »Es kann sein, daß sie bei Uschi noch neue Platten hört. Du weißt doch, daß Uschi sich immer das Neueste vom sogenannten Pop-Markt besorgt. Sicherlich ist Margit bei Uschi.«
Hubert Bernhardt mußte eine Zeitlang warten, bis sich bei der Familie Fürst die verschlafene Stimme des Hausmädchens meldete. In der Villa Fürst schliefe schon alles. Ja, auch das Fräulein Ursula. Nein. Das Fräulein Margit sei heute nicht im Haus gewesen. Nein, Fräulein Ursula schlafe schon längst.
Hubert Bernhardt legte verwirrt den Hörer zurück. Er sah die großen, ängstlichen Augen seiner Frau und wischte sich über die hohe Stirn.
»Bei Uschi war sie nicht.«
»Mein Gott! O madre!« In ihrer Not sprach Lisa Bernhardt wieder spanisch. Baurat Bernhardt blätterte bereits im dicken Telefonbuch.
»Sie hat ja auch noch andere Freundinnen«, sagte er mit plötzlich belegter Stimme. »Ich bitte dich, Lisa, reg dich nicht auf. Es wird sich alles als harmlos aufklären. Ich werde auch bei Klaus Blankers anrufen.«
»Bei dem? Warum denn?«
»Vielleicht ist sie bei ihm.«
»Um diese Zeit? Ich bitte dich!«
»Du hast doch bemerkt, daß sich Klaus um Margit bemüht.«
»Ich bin ja nicht blind.«
»Also, Lisa, Ruhe! Es ist das erstemal, daß Margit so etwas macht. Das ist doch kein Grund, sofort den Kopf zu verlieren.«
Bernhardt rief noch drei Freundinnen an, deren Telefonnummer er in dem Verzeichnis fand. Auch Babs Heilmann. Überall weckte er schlafende Familien. Die Uhr rückte auf Mitternacht.
Der letzte Anruf war bei Klaus Blankers.
»Ich komme sofort«, sagte Blankers. »Bitte, verliert nicht die Nerven. Es wird sich alles als harmlos herausstellen.«
»Auch bei Klaus war sie nicht«, sagte Bernhardt, als er den Hörer langsam zurücklegte. Seine Stimme war tonlos geworden. Falten zeigten sich in seinem Gesicht, die bisher niemand bemerkt hatte. Plötzlich war er ein alter Mann. Und ebenso plötzlich war es mit seiner Haltung vorbei; er schlug beide Hände gegen das Gesicht und lehnte sich erschöpft an die Wand. »Es ist nichts passiert«, stammelte er. »Wir müssen daran glauben, Lisa, wir müssen ganz fest daran glauben. Wir dürfen jetzt nicht durchdrehen, bevor wir wissen, was mit Margit ist.«
»Die Polizei«, sagte Lisa kaum hörbar. »Hubs … du mußt jetzt die Polizei anrufen.«
Bernhardt nickte. Er umklammerte den Hörer wie einen Rettungsring, als er die kurze Nummer drehte. Dann nannte er seinen Namen und sagte mit bebender Stimme: »Unsere Tochter Margit ist bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen. Sie hat so etwas nie getan. Wir … wir machen uns Sorgen. Es kann ja etwas passiert sein … ein Verkehrsunfall oder so. Liegen bei Ihnen Meldungen vor, die ein junges Mädchen erwähnen? Zwanzig Jahre alt. Blonde lange Haare. Schmales Gesicht …«
Hier verließ ihn die letzte Kraft. Er schluckte und mußte mit beiden Händen den Hörer festhalten.
Lisa konnte nicht verstehen, was der Beamte antwortete. Sie sah nur, wie sich die Augen ihres Mannes weiteten, ungläubig, fassungslos, als starre er in eine ihm fremde Welt. Dann fiel der Hörer zurück auf die Gabel.
»Was ist, Hubs?« fragte Lisa und tastete nach der Hand ihres Mannes. Sie war kalt wie bei einem Toten. »Was ist denn? Was sagt der Beamte?«
Hubert Bernhardt starrte mit leeren Augen über seine Frau hinweg
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