Nacht der Versuchung
auf irgendeinen Punkt an der Wand.
»Sie liegt im Hafenkrankenhaus …«, stammelte er. »Als Unbekannte … Man hat sie aus dem Wasser gezogen … Selbstmordversuch. Meine Margit … meine kleine, liebe Margit …«
Er breitete die Arme aus, zog seine Frau an sich und drückte ihren Kopf an seine Brust. Über sein Gesicht rannen Tränen.
So fand sie Klaus Blankers, als er an dem Hausmädchen vorbei ins Zimmer stürzte.
*
Im Hafenkrankenhaus wurden Lisa und Hubert Bernhardt und Klaus Blankers bereits von der Polizei und den Ärzten erwartet. Diesmal war es ein Kriminalbeamter, der Kommissar vom Dienst, der von der Polizeiwache informiert worden war. Trotz dringender Bitten ließ man Bernhardt nicht zu seiner Tochter, sondern führte ihn in ein Nebenzimmer.
»Ihre Tochter ist zur Zeit noch sehr schwach«, sagte der diensthabende Arzt. »Die Magenausheberung hat sie sehr mitgenommen. Außerdem haben wir ihr sofort prophylaktisch Antibiotika injiziert, um eine mögliche Lungenentzündung aufzufangen.«
Hubert Bernhardt fügte sich. Aber er lief wie ein gefangenes Raubtier im Zimmer hin und her, während der Kriminalbeamte seine Fragen an ihn stellte.
»Nein!« rief er immer wieder. »Nein! Nein! Meine Tochter litt nicht unter Depressionen. Sie hatte keine Geheimnisse vor mir. Sie hatte überhaupt keinen Grund, sich das Leben zu nehmen. Ich verstehe das alles nicht. Lassen Sie mich mit meiner Tochter sprechen und wir sehen alle klarer. Jemand muß sie in das Wasser gestoßen haben. Es kommt nur ein Verbrechen in Frage. Nur ein Verbrechen.«
Der Kriminalbeamte ließ Bernhardt ausreden. Dann fragte er, mit einem leichten Bedauern in der Stimme: »Und wie erklären Sie es sich, daß Ihre Tochter um diese Zeit in einem sehr abgelegenen Teil des Hafens war?«
Bernhardt hob hilflos die Schultern. »Ich habe keine Erklärung dafür.«
»Der Mann, der Ihre Tochter rettete – Hein Focke – sagte aus, daß sie allein auf die Mole gerannt kam und ins Wasser sprang. Das macht man ja sicher nicht ohne Grund.«
Baurat Bernhardt sah sich hilfesuchend nach Blankers um. »Ich weiß es nicht«, stotterte er. »Ich weiß überhaupt nichts mehr. Bitte, lassen Sie mich mit meiner Tochter sprechen.«
»Ich will sehen, ob das jetzt möglich ist.« Der Arzt verließ das Zimmer und kam nach wenigen Minuten wieder zurück. Seine Miene war sehr nachdenklich. »Ihre Tochter wäre sprechfähig«, sagte er langsam. »Aber sie möchte niemanden sehen.«
»O Gott! Das arme Kind.« Lisa wandte sich ab und weinte lautlos in ihr Taschentuch. Baurat Bernhardt schien noch nicht zu begreifen; er strebte zur Tür. Der Arzt hielt ihn höflich, aber bestimmt am Ärmel des Mantels fest.
»Wir müssen alle seelischen Erschütterungen vermeiden.«
»Aber sie kann doch nicht … ihren Vater …« Bernhardt starrte entgeistert um sich.
»Wenn ich vielleicht mit ihr spreche«, sagte Klaus Blankers.
»Sie will niemanden sehen. Sie ist in einer solchen inneren Verkrampfung, daß jeder Zwang eine neue Katastrophe auslösen kann.«
»Aber warum bloß? Warum?« rief Bernhardt verzweifelt. »Margit war immer ein fröhliches Kind. Sie liebte das Leben.«
»Über die Gründe werden wir vielleicht in den nächsten Tagen mehr erfahren. Vorerst muß sie Ruhe haben. Absolute Ruhe.«
Ohne ihre Tochter gesehen oder gesprochen zu haben, fuhren Lisa und Hubert Bernhardt wieder nach Hause. Ihre bisherige ruhige, wohlsituierte, gemächliche Welt war aus den Angeln gehoben. Sie verstanden nichts mehr. Baurat Bernhardt hatte noch erreicht, daß die Polizeipressestelle darauf verzichtete, eine Meldung an die Öffentlichkeit zu geben. Die Zeitungen würden also von diesem Selbstmordversuch nichts erfahren.
Am nächsten Morgen wurde Margit aus dem Hafenkrankenhaus in das Privatsanatorium des Professor Dr. Schwade verlegt. Es nannte sich ›Park-Sanatorium‹, lag auch in einem riesigen Park, machte aber von außen mit seinen hohen Mauern mehr den Eindruck einer Festung als den eines Sanatoriums. Margit bekam ein schönes, großes Zimmer zum Rosengarten hin. Es war wie ein Salon eingerichtet mit Polstersesseln, Couch, Marmortisch und Teppichen. Nur das weiße Bett in der Schlafnische verriet, daß es ein Krankenzimmer war.
Und noch etwas störte, machte plötzlich die Abgeschlossenheit deutlich, den goldenen Käfig: Vor dem großen Fenster war ein Gitter angebracht. Man hatte es zwar weiß gestrichen, so daß es aussah wie ein zierliches Boulevardrankenwerk, aber es
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